Er entdeckte das Hässliche für die Dichtung: Wer war Charles Baudelaire?
Ein Schwan gehört aufs heilignüchterne Wasser, das wissen wir nicht erst seit Hölderlin. Was also hat solch ein Tier auf dem Pflaster von Paris verloren? Dass es ihm dort, inmitten einer infernalischen Baustelle auf der Place du Carrousel, nicht behagt, dass es sogar Vorwürfe gegen Gott zu schleudern scheint, fasst Charles Baudelaire 1861 in diese Worte: „[Là je vis] … Un cygne qui s‘était évadé de sa cage / Et, de ses pieds palmés, frottant le pavé sec / Sur le sol raboteux traînait son blanc plumage. / Près d’un ruisseau sans eau la bête ouvrant le bec“.
In der Prosaübersetzung von Friedhelm Kemp: „[Dort sah ich] … einen Schwan, der aus seinem Käfig entwichen war und, mit dem Schwimmfuß das trockene Pflaster scharrend, über den holprigen Boden sein weißes Gefieder schleifte. An einem wasserlosen Rinnstein riss das Tier den Schnabel auf“.
Eine Welt, die sich rasend schnell verändert
„Der Schwan“ gehört zu den berühmtesten Gedichten der „Blumen des Bösen“ („Les Fleurs du Mal“), eine Sammlung, die enorme Inspirationskraft in der Lyrik und überhaupt in der Kunst entfaltet hat – wie sehr, das illustriert aktuell die Ausstellung „Böse Blumen“ in der Galerie Scharf-Gerstenberg.
Baudelaires Generalthema kommt im „Schwan“ besonders prägnant zum Ausdruck: Entfremdung, die Nicht-Zugehörigkeit des modernen Menschen zu einer neuen Lebenswirklichkeit, die sich rasend schnell verändert. Für Baudelaire, der mit feiner Sensorik diese Umbrüche früher wahrgenommen hat als andere, wurde das unter anderem auch manifest im radikalen Umbau von Paris unter Georges-Eugène Haussmann.
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Sechs Gedichte der Erstausgabe der „Fleurs du Mal“ von 1857 wurden wegen Gotteslästerung und Beleidigung der öffentlichen Moral verboten – und blieben es in Frankreich bis 1949 –, sie fehlten in der zweiten Ausgabe von 1861, die dafür 32 neue Gedichte enthielt. Krankheit, Alkohol und Drogen prägten Baudelaires letzte Lebensjahre, erst nach seinem Tod 1867 wuchs sein Ruhm und die enorme Wirkung des Werks, zunächst bei den französischen Symbolisten wie Verlaine, Mallarmé oder Rimbaud, später auch in anderen Ländern.
Baudelaire als Kronzeuge
In Deutschland fertigte Stefan George die erste Übersetzung an, es gab weitere Versuche, die doch immer nur nahelegen: „Die Blumen des Bösen“ liest man, soweit möglich, im Original, um sich ganz dem Sprachfluss zu überlassen. Als bedeutendster Interpret – und ebenfalls Übersetzer – von Baudelaires Werks gilt Walter Benjamin, der Baudelaire zum wichtigen Kronzeugen seines unvollendeten „Passagen“-Werks machte, mit dem er eine „Urgeschichte des 19. Jahrhunderts“ schreiben wollte.
Noch 1996 macht Karl Heinz Bohrer in seiner großen Untersuchung „Der Abschied – Theorie der Trauer“ das Erschrecken über das Verschwinden des Schönen vor allem an Baudelaire und dessen „radikaler Melancholie“ fest. Ihm attestiert er, als einer der ersten gewusst zu haben, dass die Gegenwart in der Moderne gar nicht mehr erfahrbar, dass sie stets schon entschwunden, das „je schon Gewesene“ sei.
Wer durch die Ausstellung „Böse Blumen“ streift und etwa Odilon Redons Kohlezeichnung „Fleurs du Mal“ von 1890 betrachtet oder Moritz Wehrmanns schauerliche Blumen-Fotografien von 2012, dem wird schnell klar, warum Baudelaires Dichtung bis heute so fasziniert und so modern wirkt: Weil er als einer der ersten die klassische Vorstellung, dass das Schöne und Gute eine Einheit bilden würden, gesprengt hat.