Die besten Comics des Quartals: Familiendramen führen Kritiker-Bestenliste an
Die dokumentarische Graphic Novel „Columbusstraße“, in der der Autor und Zeichner Tobi Dahmen seine Familiengeschichte aufarbeitet, ist der beste Comic des vergangenen Quartals. Das ist das Ergebnis einer Abstimmung unter 30 deutschsprachigen Journalistinnen und Journalisten, die alle drei Monate die aus ihrer Sicht besten neuen Comic-Veröffentlichungen bewerten.
„Columbusstraße“ basiert auf Gesprächen Tobi Dahmens mit seinem inzwischen gestorbenen Vater, Familienbriefen und Tagebüchernvor allem aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Auf dieser Grundlage erzählt der in Frankfurt geborene und heute im niederländischen Utrecht lebende Autor auf mehr als 500 im halbrealistischem Stil gezeichneten Seiten von seiner Eltern- und Großelterngeneration im Kontext der deutschen Geschichte. Dabei geht es um Themen wie Mitläufertum und persönliche Verantwortung. Eine ausführliche Rezension folgt demnächst auf den Tagesspiegel-Comicseiten.
Der Tagesspiegel präsentiert die Comic-Bestenliste in Kooperation mit der Fachzeitschrift „BuchMarkt“, der Website Comic.de und dem Radiosender RBB Kultur.
Auf dem zweiten Platz findet sich ebenfalls eine autobiografische geprägte Erzählung: Ika Sperlings Familiendrama „Der große Reset“. Darin schildert die Hamburger Künstlerin in teils halbrealistischen und teils surrealistischen Bildfolgen, wie der Vater der Ich-Erzählerin während der Corona-Jahre vollends in Verschwörungsideologien abdriftet und die Familie dadurch auseinanderbricht. Mehr zu diesem Buch und seinen Hintergründen hier.
Auf den dritten Platz wählte die Jury den unterhaltsamen Sachcomic „George Lucas – Der lange Weg zu Star Wars“. Darin schildern die Franzosen Laurent Hopman (Szenario“ und Renaud Roche (Zeichnungen) auf Grundlage von Archivmaterial und historischen Quellen, wie der Regisseur seinen Traum von einer Weltraumsaga gegen alle Widerstände durchgesetzt hat.
Das düstere Drama „Drei oder vier Bagatellen“ landete auf Platz vier. Es ist das jüngste Buch des Österreichers Franz Suess, der in kratzigen, leicht karikiert überzeichnenden Bildern erzählt er darin vier Geschichten von traurigen Glückssuchern, Verlierern und Zurückgewiesenen, was sich als Motiv durch sein bisheriges Werk zieht.
Die fantastische Avantgarde-Abenteuergeschichte „Pavels Gesicht“ des Franzosen Jeremy Perrodeau wurde auf den fünften Platz gewählt. Das kürzlich auch auf dem Comicfestival Angouleme ausgezeichnete Buch spielt auf einer abgelegenen Insel, auf der ein Pilot notlanden muss. Die geheimnisvolle Welt, die er daraufhin entdeckt, beeindruckt vor allem durch die ausgefeilten Zeichnungen, die Elemente der Ligne Claire mit surrealistischen Einflüssen verbindet.
Auf Platz sechs kam der Abschlussband Band der autobiografisch inspirierten Comic-Trilogie „Daidalos“ des US-Amerikaners Charles Burns. Darin verbindet der durch die Graphic Novel „Black Hole“ bekanntgewordene Zeichner Elemente der Genres Science-Fiction, Romantik und Horror und erzählt in teils naturalistischen und teils surrealistischen Bildern eine Geschichte, in der Traum und Realität kaum zu trenne sind.
Der jüngste Sammelband des Zeichners Ralf König mit dem Titel „Harter Psücharter“ wurde auf Platz sieben gewählt. Das Buch versammelt neue Geschichten mit Königs langjährigen Hauptfiguren Konrad und Paul und erzählt humorvoll vom Bärentreffen in Köln, Problemen mit dem Älterwerden und Generationskonflikten innerhalb der queeren Community. Die Tagesspiegel-Rezension des Bandes steht hier.
Die belgische Zeichnerin und Szenaristin Clara Lodewick erzählt in ihrer Graphic Novel „Merel“ mit klarem, semirealistischen Strich von einer Mittvierzigerin, die sich als unverheiratete, kinderlose Frau mit folgenreichen Gerüchten konfrontiert sieht, die ihr eigentlich glückliches Leben in einem kleinen Dorf schwer belasten. Das Buch wählte die Jury auf Platz acht.
Auf Platz neun kam Danijel Zezelj Kafka-Adaption „Wie ein Hund“. Dafür hat der gebürtige Kroate, der heute in New York und in Belgrad lebt, Texte aus Franz Kafkas Erzählung „Ein Hungerkünstler“ als Ausgangspunkt einer Bildgeschichte genommen, die von starken Schwarz-Weiß-Kontrasten geprägt ist und einen kantigen expressionistischen Strich mit realistischen Elementen verbindet. Mehr zu diesem Buch und anderen aktuellen Kafka-Comics hier.
Die von vielen Fans lang erwartete Fortsetzung eines frankobelgischen Comic-Klassikers wurde auf Platz zehn gewählt: „Gaston: Die Rückkehr eines Chaoten“, gezeichnet von dem Kanadier Delaf im Stil des Belgiers André Franquin. Fast 30 Jahre nach dem offiziellen Ende der Albenreihe um den chaotischen Büroboten knüpft der neue Band fast nahtlos an das Vorbild an.
Für Franquin-Verehrer, die sich seit dem Tod des Zeichners 1997 eine Fortsetzung der Reihe im alten Stil wünschen, ist das Album das Comic-Comeback des Jahres. Wer sich allerdings erhofft hat, dass die Reihe mit dem neuen Zeichner auch eine inhaltliche oder zeichnerische Modernisierung verpasst bekommt, dürfte dieses Album eher kritisch sehen. Mehr dazu in dieser Rezension, und hier gibt es ein Tagesspiegel-Interview mit Delaf.