Die Liebe lebt
„Diese Inszenierung zu erleben ist nur unter dem Aspekt interessant, ein abschreckendes Beispiel künstlerischer Verirrung demonstriert zu bekommen.“ Das war 1987 im Fachmagazin „Theater der Zeit“ über Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ an der Komischen Oper zu lesen. Die radikal zeitgenössische Lesart von Harry Kupfer – der mythische Sänger ist ein Rockstar mit E-Gitarre und Lederjacke, seine geliebte Gattin kommt bei einem Autounfall ums Leben – erregte lauten Unmut bei der Premiere. Und wurde dann zur Kultinszenierung, auch dank erfolgreicher Gastspiele in London, New York und Jerusalem, die sich bis 2001 im Repertoire hielt.
Wenn jetzt, 35 Jahre später, Glucks Reformoper in einer Neuproduktion an der Komischen Oper gezeigt wird – in der Regie von Damiano Michieletto, dem hier 2016 eine faszinierende Vergegenwärtigung von Jules Massenets „Cendrillon“ gelang –, dann steigen unwillkürlich auch Erinnerungen auf an Jochen Kowalski, wie er als Orpheus mit einem tragbaren Röhrenfernseher über die Bühne taumelt, über dessen Bildschirm das Gesicht der Frau flimmert, die er verloren hat. Kupfers Deutung kannte, anders als das Libretto, kein Happy-end. Der vom Schmerz zermürbte Titelheld landet in einer Nervenheilanstalt, durchlebt den Gang in die Unterwelt als Fieberfantasie und nimmt sich am Ende in einem Bus- Wartehäuschen das Leben.
Damiano Michieletto mag der klassischen Handlung auch nicht folgen, er postuliert aber eine ganz andere Ausgangssituation: Bei ihm sind Orfeo und Euridice ein Paar, das sich auseinandergelebt hat. Während der Ouvertüre sitzen sie sich an einem langen Tisch gegenüber, sprachlos, er hat seinen Koffer bereits gepackt. Die erste Szene zeigt dann ein Krankenhaus: Euridices Einlieferung, deren Grund im Dunklen bleibt, hat Orfeo zurückgeholt – und damit beginnen die Probleme des Regiekonzepts.
Zum glücklichen Schluss, so will es der Regisseur, werden sich die beiden in der Ausgangslage wiederfinden, jetzt aber ist Orfeo endlich in der Lage, seine Partnerin wirklich zu sehen, so dass ihre Ehe eine neue Chance bekommt.
Eine psychologisch interessante Versuchsanordnung, die jedoch schnell von Glucks Musik ad absurdum geführt wird. Warum sollte Orfeo so herzzerreißend um Euridice barmen, wo doch seine Zuneigung angeblich verschwunden ist? Warum veranstaltet sie beim Wiedersehen in der Unterwelt ein Höllenspektakel, weil er sie nicht ansieht, wenn er doch genau das zuvor im Alltag stets vermieden hat? Hier scheint es ein Starregisseur für unter seiner Würde zu halten, die Geschichte einfach so zu erzählen, wie sie seit Jahrtausenden geschrieben steht. Heraus kommt: vergebliche Liebesmüh.
Und auch optisch wie atmosphärisch bleibt diese Inszenierung eine ziemlich klinische Angelegenheit. Kostümbildner Klaus Bruns lässt den Chor im Krankenhaus Alltagskleidung in Grautönen tragen und in der Unterwelt erst schwarze Ganzkörperanzüge, später fleischfarbene Nachthemden und Pyjamas. Raffiniert ist Paolo Fantins Bühnenbildidee, immer wieder einen weißen Kubus herab schweben zu lassen, der sich über eine Szenerie stülpt, um dann eine ganz andere wieder freizugeben. Doch auch hier wird vor allem abstrakt gedacht.
Bleibt die musikalische Seite. Und die präsentiert sich zum Glück ebenso klangsinnlich wie lebensprall. Dirigent David Bates ist ein Spezialist für Alte Musik, die er normalerweise mit einem Ensemble macht, das er selbst gegründet hat und das den ironischen Namen „La Nuova Musica“ trägt. Doch er kann eben auch mit einer stilistischen Allrounder-Truppe wie dem Orchester der Komischen Oper die Schönheiten von Glucks Partitur aufzeigen. Das fällt dann samtiger im Sound aus und üppiger in der Anmutung. Aber dass sich hier zwei musikgeschichtliche Epochen gegenseitig befruchten – der verblassende Barock und die frisch erblühende Wiener Klassik –, wird aufs Angenehmste ohrenfällig.
Raumgreifend, in szenischer wie auch akustischer Hinsicht, agieren die Chorsolisten in der Komischen Oper – und wirken dabei geradezu überwältigend in ihrer Klangpracht. Absolut mühelos verströmt sich auch Carlo Vistoli als Orfeo. Sein Countertenor hat erstaunliche Kraft für die emotionalen Ausbrüche, er führt ihn wunderbar geschmeidig führen, wie in der berühmten Arie „Che farò senza Euridice“.
Nadja Mchantaf ist die so berührend besungene Geliebte, darf selber aber erst im zweiten Akt ihre Stimme erheben. Dann jedoch kommt sie blitzschnell auf dramatische Betriebstemperatur – und schauspielert gewohnt hemmungslos.
Eine besondere Rolle hat Regisseur Michieletto dem Amor zugedacht. Im Libretto übernimmt er nur die Funktion eines Boten, der den Willen der Götter verkündet. Hier soll er sowohl eine Inkarnation der Liebe sein als auch Spielmacher beim Ringen der Eheleute um ihre Zukunft. Mit frischem, freiem Sopran singt ihn Josefine Mindus, zunächst mephistophelisch gewandet inklusive Zylinder und Spazierstock. Mit allerlei Zaubertricks müht sich Amor um die Protagonisten. Der schlecht sitzende Anzug unterm langen Mantel zeigt jedoch an, dass es auch emotional noch nicht passt. Erst als die Versöhnung des mythischen Paares geschafft ist, verwandelt er sich in einen Puck im Pailletten-Smoking. Ende gut, alles Glitzer. Frederik Hanssen
Wieder am 29. Januar, 6., 12 und 25. Februar sowie im März und Juli.