Kunstgewerbemuseum : Im Schatten der Artischocke
Der Mensch ist so maßlos geworden. Er verwüstet die Erde und droht dabei, an seinem Größenwahn zu Grunde zu gehen. Was tun? Inka Gierden regt zu einem Perspektivwechsel an, um das ins Wanken geratene Verhältnis zur Natur wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wer im Berliner Kunstgewerbemuseum vor der überdimensional großen Artischocke Platz nimmt, die die Berliner Wandmalerin auf eine silberne Leinwand zauberte, fühlt sich auf einmal ganz klein.
Der fünf Meter hohe Wandbehang mit dem anmutigen Blütengemüse ist jetzt im Rahmen der Ausstellung „Vier Elemente. Handwerk & Design aus Paris und Berlin“ anlässlich der Europäischen Tage des Kunsthandwerks (Etak) zu bestaunen. Die Arbeit, angelehnt an prächtige Gobelins in Schlössern, machte den ersten Platz beim Landespreis Gestaltendes Handwerk.
Letztendlich ist der Raum auch eine begehbare Skulptur.
Inka Gierden, Wandmalerin
„Ich finde es interessant, mit diesen Größen zu spielen, ein bisschen wie Alice im Wunderland“, sagt Inka Gierden. Seit 20 Jahren schon beschäftigt sie sich mit der Wandmalerei. Wie kommt man als studierte Bildhauerin überhaupt auf so eine Idee? „Letztendlich ist der Raum auch eine begehbare Skulptur“, sagt Gierden. Und sie ist eine Meisterin darin, mit kunsthandwerklichen Mitteln Stimmungen zu erzeugen und die Raumwahrnehmung komplett zu verändern.
Die Wand öffnet sich
Der Name ihres Ateliers „Wandlungen“ spiegelt dieses Wortspiel von Wand und Verwandlung wider. Wer Inka Gierden dort, in einem ruhigen Schöneberger Hinterhof, besucht, wähnt sich selbst in einem geheimnisvollen Märchenhaus – zarte Wiesenblumen blühen hoch bis zur Decke, ein Elefant schwebt auf einer Leinwand federleicht in der Luft. Hier und da schimmert es gold und silber.
Der bewusste Umgang mit den Farben ist Inka Gierden enorm wichtig. Deshalb verwendet sie natürliche Farbpigmente und mineralische Binder. „Die Wand kriegt dadurch etwas Pudriges“, erklärt die Künstlern, die viele Jahre auch mit der Lasurmalerei experimetierte. Dabei werden mehrere Farbschichten übereinander aufgetragen. „Zum Beispiel Blau, dann setzt sich ganz leicht Goldocker darüber und vielleicht noch ein bisschen Grün. Je nach Lichteinfall sieht man mal mehr die eine mal die andere Farbe“, schwärmt sie. Das habe etwas angenehm Changierendes. Die Wand steht bei Gierden nie wie eine monochrome Fläche, sondern öffnet sich und bekommt eine besondere Tiefe.
Inspiriert von der Natur
Wandmalerei ist oft Auftragsarbeit. Auch Inka Gierden hat schon Entwürfe strikt nach Kundenwunsch gefertigt. Für das Fraunhofer-Institut etwa gestaltete sie eine Wand mit Computerchips. Heute geht sie solche Kompromisse ungern ein und holt sich ihre Inspiration am liebsten in der Pflanzenwelt. Der achtsame Umgang mit der Natur sei ein ganz großes Thema für sie. „Ich habe mich viel mit der Permakultur beschäftigt“, sagt Gierden. Dahinter steckt die Idee, dass ein Garten einen geschlossenen Kreislauf bildet. „Ich male gern Wiesen und habe gemerkt, wie beim Komponieren manche Pflanzen intuitiv zusammenkommen, andere wiederum das Bild eher stören.“
Manchmal, wenn Inka Gierden zum Pinsel greift, landet auch mal etwas scheinbar Profanes auf einem vergoldeten oder versilberten Stoff – und wirkt prompt ganz außergewöhnlich und kostbar. Zum Beispiel ein Radieschen, Rote Bete – oder Artischocke. An dem Korbblütler fand Inka Gierden nicht nur die Farbigkeit ansprechend, das leuchtende Lila und die satten Grüntöne. „Mit den vielen Schichten und Stacheln ist die Pflanze auch als Skulptur einfach wunderschön“, sagt sie.
Damit sie in voller Pracht zur Geltung kommt, braucht Gierdens „Artischocke auf Silber“ viel Platz. Der Raum im Kunstgewerbemuseum scheint fast schon zu klein. Doch die Künstlerin ist zuversichtlich, dass ihr Werk nach der Schau ein passendes Zuhause finden wird. Das Praktische an dem Wandbehang: Man kann es abnehmen, zusammenrollen und woanders wieder aufhängen. „Diese Flexibilität passt gut in unsere Zeit“, sagt Gierden.
Eine Handwerksakademie für Berlin
Dass die jungen Leute heute wenig Lust aufs Handwerk haben, beobachtet sie mit großer Sorge. Handwerksberufe genießen in Deutschland kein hohes Ansehen. Inka Gierden findet es schade. „Ich habe jetzt diesen Satz von Joseph Beuys verstanden: Jeder Mensch ist ein Künstler. Letztendlich geht es nicht darum, was man tut. Wenn man es mit Liebe und Hingabe tut, dann ist man auch als Schneider oder Dachdecker ein Künstler“, sagt sie.
Goethe war ein großer Fürsprecher des Handwerks.
Inka Gierden, Wandmalerin
Genau dieses Sinnliche, Handfeste scheint uns im digitalen Zeitalter abhandengekommen zu sein, das Arbeiten mit dem Kopf gilt als Ideal. „Man wird ein bisschen müde davon“ sagt Gierden und glaubt: Auch über handwerkliches Tun, könne man zu wichtigen Erkenntnissen kommen. „Goethe etwa war ein großer Fürsprecher des Handwerks.“
Doch seit dem Zweiten Weltkrieg wurde Kunst immer elitärerer – und das Handwerk immer weniger geschätzt. „Da ist eine riesige Lücke entstanden“, sagt Inka Gierden. Eine Gesellschaft brauche aber beides. Sich das zu vergegenwärtigen, sei wichtiger denn je. Vor allem in der Stadt, wo es mehr und mehr darum geht, identitätsstiftende Räume zu schaffen. „Erstaunlicherweise werden zum Beispiel bemalte Gebäudedurchfahren nicht zugesprayt, weil sie so etwas Schick-steriles nicht mehr haben“, sagt die Künstlerin.
Wie also könnte man die Lücke in Zukunft wieder schließen? Gierden hat eine Vision von einer Handwerksakademie. „Ein großes Haus in Berlin, wo alle Gewerke, vom Tischler zum Installateur, unter einem Dach zusammenkommen und Jugendliche an das Handwerk herangeführt werden.“ Das wäre doch was!
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