Von „Tim und Struppi“ zu „Blake und Mortimer“: Klare Linien, apokalyptische Abenteuer

Altägyptische Kulte, Sarkophage und Mumien haben ihn schon früh fasziniert und seine Fantasie angeregt. Als Edgar Pierre Jacobs sich als Fünfzehnjähriger zusammen mit seinem Freund Jacques van Melkebeke im „Musée du Cinquantenaire“ in Brüssel nachts einschließen lässt, um in die gruselige Atmosphäre einer ägyptischen Grabkammer einzutauchen, hatte er noch nicht vor, daraus spannende Comics wie „Das Geheimnis der Großen Pyramide“ zu machen.

Die Begeisterung für die „Neunte Kunst“ kam erst sehr viel später. Obwohl er bereits in jungen Jahren gern zeichnete und Bildende Kunst studierte, zog ihn die Theaterwelt stärker an, insbesondere die Oper, und er strebte eine Karriere als Bariton an,

Edgar Pierre Jacobs (1904-1987) sollte zu einem der populärsten und einflussreichsten belgischen Comiczeichner werden. 1946 kreierte er für das Comicmagazin „Tintin“ die beliebte Abenteuerserie „Blake und Mortimer“ und zeichnete sie bis zu seinem Lebensende.

Oper auf Papier: Eine Szene aus „Edgar P. Jacobs – Träume und Apokalypsen“.
Oper auf Papier: Eine Szene aus „Edgar P. Jacobs – Träume und Apokalypsen“.
© © Glénat, 2021 – Carlsen Verlag GmbH • Hamburg 2022

Die Comicbiografie „Edgar P. Jacobs – Träume und Apokalypsen“ (von François Rivière und Philippe Wurm, Übersetzung Harald Sachse, Carlsen, 144 Seiten, Hardcover, 22 €) widmet sich nun dem wechselvollen Leben des berühmten Zeichners.

In der Tradition der Ligne Claire

Vor einigen Jahren erschien bereits eine erste gezeichnete Biografie über ihn, „Der Fall E. P. Jacobs – Ein Leben für den Comic“ von Rodolphe/Alloing (2014 auf Deutsch im Carlsen Verlag). Diese war jedoch recht oberflächlich gehalten und konnte weder narrativ noch zeichnerisch überzeugen.

Autor der aktuellen Biografie ist der 1949 geborene Franzose François Rivière, der seit Mitte der 1970er Jahre als Comicszenarist arbeitet und Jacobs persönlich kennengelernt hat. Lange kooperierte er mit dem bekannten Ligne Claire-Zeichner Jean-Claude Floc´h.

Eine weitere Seite aus „Edgar P. Jacobs – Träume und Apokalypsen“.
Eine weitere Seite aus „Edgar P. Jacobs – Träume und Apokalypsen“.
© © Glénat, 2021 – Carlsen Verlag GmbH • Hamburg 2022

Auch „Edgar P. Jacobs“ ist der Tradition der Ligne Claire verhaftet, jenem klaren, die Konturen betonendnen, gut lesbaren grafischen Stil, der von Hergé („Tim und Struppi“) und Jacobs entscheidend geprägt wurde. Der 1962 geborene Zeichner Philippe Wurm orientiert sich deutlich an Jacobs´ Werken, der ganze Band erscheint wie ein – dezent modernisierter – Original-Jacobs in dessen realistischer Variante der Ligne Claire.

Gründlich bis ins letzte Detail

Wie sein Vorbild legt Wurm dabei Wert auf gründliche Recherche bezüglich der Hintergründe, der Architektur Brüssels oder der historischen Kostüme seiner Figuren. Die pastellfarbene Kolorierung von Benoît Bekaert komplettiert diesen Eindruck einer sorgfältigen wie einfühlsamen Annäherung an die Person Edgar Pierre Jacobs und seine Ästhetik.

Eine weitere Seite aus dem besprochenen Album.
Eine weitere Seite aus dem besprochenen Album.
© © Glénat, 2021 – Carlsen Verlag GmbH • Hamburg 2022

Rivières Szenario basiert im Wesentlichen auf Jacobs Autobiografie „Un opéra de papier“ von 1981 – als „Papieropern“ bezeichnete Jacobs mit leiser Selbstironie seine Comics, die sich meist durch eine gestalterische, oft auch erzählerische Opulenz auszeichneten.

Sein künstlerischer Werdegang setzte ein mit Werbegrafiken für Brüsseler Kaufhäuser und aufwändigen Kulissen- bzw. Kostüm-Entwürfen für Brüsseler Theater. Denn seit seiner Jugend begeisterte sich Jacobs vorrangig für Opern und begann früh selbst zu singen. Als Bariton trat er in den 1920er und -30er Jahren an Opernhäusern in Lille und Brüssel auf, der große Durchbruch blieb jedoch aus.

Mit „Flash Gordon“ fing es an

Während des Zweiten Weltkrieges, als Brüssel von der deutschen Wehrmacht besetzt war, begann seine Karriere als Comiczeichner eher zufällig: Zunächst führte der Comic-unkundige Illustrator eine Episode von Alex Raymonds Science-Fiction-Serie „Flash Gordon“ für das Jugendmagazin „bravo!“ zuende, als amerikanische Comics durch den Kriegseintritt der USA mit einem Einfuhrverbot belegt wurden.

Jacobs‘ Seiten fielen derart überzeugend aus, dass man ihm die Gelegenheit zu einem eigenen längeren Comicabenteuer gab: „Die U-Strahlen“ (kürzlich bei Carlsen in der „Blake und Mortimer Bibliothek“ neu aufgelegt, 56 Seiten, 18 €) war, ähnlich „Flash Gordon“, eine inhaltlich naive, aber handwerklich beachtliche Mischung aus Abenteuer und Science-Fiction, die bereits manche Zutat aus seinem späteren Meisterwerk „Blake und Mortimer“ enthielt.

Das Titelbild des besprochenen Albums.
Das Titelbild des besprochenen Albums.
© © Glénat, 2021 – Carlsen Verlag GmbH • Hamburg 2022

In dieser Zeit lernte Jacobs auch Georges Remi alias Hergé kennen, dessen bereits berühmte Comicserie „Tim und Struppi“ er bisher nicht einmal gelesen hatte. Jacobs wurde zu dessen Assistent, zuständig für Farbgebung und aufwändige Hintergrunddekors, und prägte die weiteren „Tim“-Abenteuer durch seine hingebungsvolle, sorgfältige Gestaltung nachhaltig.

Nach dem Krieg bekam die Freundschaft zu Hergé Risse, da dieser Jacobs´ Anteil an „Tim“ nicht mit einer Namensnennung würdigen wollte. Trotzdem arbeiteten sie weiterhin zusammen: Für das neue Comicmagazin „Tintin“, dessen künstlerischer Leiter Hergé war, entwickelte Edgar Pierre Jacobs ab 1946 „Der Kampf um die Welt“.

Es ist das erste Abenteuer um seine Helden „Blake und Mortimer“, den britischen MI5-Oberst Francis Blake und dessen schottischen Freund, den Astrophysiker Professor Philip Mortimer. In ihren Abenteuern verband Jacobs Krimi- und Thrillerplots mit abenteuerlichen und fantastischen Elementen bis hin zu apokalyptischer Science-Fiction.

Neben Jacobs´ beruflicher Karriere werden in „Edgar P. Jacobs“ auch private Seiten beleuchtet, so seine Beziehungen zu seinen beiden charakterlich sehr unterschiedlichen Ehefrauen Ninie (flatterhaft) und Jeanne (solide und häuslich) sowie die langjährige Freundschaft zum Maler und künstlerisch vielseitigen Tausendsassa Jacques Van Melkebeke, der auch mit Hergé befreundet war, an beider Comicserien mitarbeitete und wegen seiner Kollaboration mit dem Nazi-Regime nach dem Krieg verurteilt und inhaftiert wurde.

Rivière und Wurm gelingt so ein interessanter, stimmungsvoller Einblick in die Anfänge der belgischen Comicproduktion. Der Comic ist auch das facetten- und anekdotenreiche Porträt eines außergewöhnlichen und menschlich untadeligen Künstlers, dessen Einfluss noch heute bei vielen frankobelgischen und internationalen Zeichnern spürbar ist.

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