Erwachsen werden mit Esther
Esther steckt mitten in der Pubertät. Als Vierzehnjährige gehört die Hauptfigur der Reihe „Esthers Tagebücher“ jetzt zu den Großen an ihrer Schule und will endlich einen Freund. Sie fährt auf einen Schüleraustausch nach Spanien, wo sie ihre ersten Erfahrungen mit Alkohol macht, und beginnt, sich für Politik zu interessieren.
Als der französische Zeichner Riad Sattouf 2017 seine Reihe „Esthers Tagebücher“ mit „Mein Leben als Zehnjährige“ begann, verkündete er, dass er das Projekt auf zehn Jahre angelegt habe – bis Esther – oder ihr reales Vorbild – erwachsen geworden sei. Als eine Art Langzeitstudie über das Erwachsenwerden und den Blick auf die Welt aus den Augen einer Heranwachsenden.
Seitdem wurde jährlich ein weiterer Band veröffentlicht. Mit dem aktuellen fünften Werk, „Mein Leben als Vierzehnjährige“ (aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock, Handlettering von Hartmut Klotzbücher, Reprodukt, 56 S., 20 €), wäre die Halbzeit erreicht.
Das reale Vorbild und Quelle für die authentischen Einblicke in das Leben der heranwachsenden Esther ist die Tochter eines Freundes von Sattouf. Sie berichtet ihm wöchentlich, was gerade in ihrem Leben passiert und was sie besonders bewegt. Dazu gehören besondere Ereignisse genau so wie Alltagsgeschichten.
Sattouf fasst die Erzählungen auf je einer Seite in kurzen Episoden zusammen, die wöchentlich in der Zeitschrift „L’Obs“ erscheinen und von denen jeweils 50 gesammelt ein Buch ergeben.
Schule, Familie und Freunde prägen das Leben
Esther wird zwar als ein ganz „normaler“ Teenager dargestellt, aber das intakte Elternhaus, die sichere Umgebung und die gute Schulbildung verleihen ihr einen vergleichsweise privilegierten Status und sie repräsentiert mit ihren Erlebnissen, Interessen und Gedanken nur einen Teil der (französischen) Heranwachsenden. Einen darüber hinausgehenden Anspruch erhebt Sattouf jedoch auch nicht.
Seit dem ersten Band bilden die Themen Schule, Familie und Freunde die Basis ihrer Erzählungen, die Sattouf – wie in einem Tagebuch – in der Ich-Form verarbeitet. Alle Bände haben den gleichen zeitlichen Aufbau: Sie beginnen mit einem neuen Schuljahr und schließen mit dem Ende der Sommerferien, in denen Esther in ein Feriencamp fährt.
Langweilig wird es dennoch nie. Daran hat auch der cartoonhafte Stil von Sattoufs Zeichnungen Anteil. Die karikativen Figuren agieren in nur angedeuteten Räumen, manchmal ganz ohne Hintergrund. Nur durch eine einfache, flächige Farbgebung schafft er Akzente, Schatten oder räumliche Tiefe.
Bei Sattouf liegt die Betonung auf den Texten – die reichlich zu finden sind, als Esthers Erzählung fortlaufend von Panel zu Panel und als in Schreibschrift in das Bild mit Hinweispfeilen hineingeschriebene Zusätze und Kommentare, auch von ihr. In Kombination mit den Bildern ergibt das eine hoch amüsante und dabei keineswegs anspruchslose Comic-Lektüre.
Wie in den Vorgängerbänden erfährt man, wie Esther bedeutende Ereignisse wahrnimmt, etwa die brennende Kirche Notre Dame de Paris oder die Proteste der Gelbwesten. Als Vierzehnjährige nimmt sie immer mehr von ihrer politischen und gesellschaftlichen Umwelt wahr und beschäftigt sich häufiger mit Themen außerhalb ihres persönlichen Umfeldes.
Mit ihrem Bruder, den sie schon seit dem ersten Band „hasst“ und der sie nicht selten mit seiner provozierenden Haltung und Verschwörungstheorien auf die Palme bringt, setzt sie sich zunehmend kritisch auseinander.
Politik und Populärkultur
Und weil ein sehr wichtiger Teil in Esthers Leben ihr Handy ist, erfährt man auch viel über die aktuellen Trends der Populärkultur und sozialen Medien, die sie aufmerksam in den Schulpausen oder zu Hause auf ihrem Bett verfolgt.
Mit dem, was gerade in Esthers Freundeskreis „trendet“, wird manchmal eine ganze Episode gefüllt. Zum Beispiel mit dem „Flossen“, einem Internet-Hype, der ab 2017 von einem Teenager mit Rucksack das World Wide Web eroberte.
In einer anderen Episode erzählt Esther von der Sängerin Vitaa, die ein Lied von Charles Aznavour gecovert hat. Anlass ist der Tod des 2018 verstorbenen Chanson-Meisters mit seinem „genialen Look“ – und Esther wagt einen vorsichtigen Gedanken an den Tod. Bald driftet sie jedoch ab und denkt darüber nach, wie es wohl ist, als alter Mensch riesige Ohren zu haben – weil die ja nicht aufhören zu wachsen.
Ganz klar sind dagegen ihre Vorstellungen von der Zukunft: In 30 Jahren ist sie als 44-Jährige nicht nur schön, hat ein erfülltes Leben und die Männer liegen ihr zu Füßen, sondern Krankheiten sind kein Problem mehr, Religionen sind abgeschafft und Ersatzfleisch ermöglicht, dass die Menschen wieder alles essen können, „ohne irgendwas oder -wem was anzutun.“
Und: „Weil all die alten Knacker, die den Planeten immer gelenkt und zerstört hatten, an Altersschwäche gestorben sind, heilt die Welt wieder und es geht der Erde besser.“
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Greta von Thunberg sagt ihr dagegen erst mal nichts, die ist in ihrer Schule noch völlig unbekannt. Doch sie bewundert ihre neue Freundin, die Aktivistin der Schule. Durch sie lernt sie auch Cybermobbing und den Hass via Textnachrichten kennen, mit dem in der Vergangenheit andere Schüler ihrer Freundin zugesetzt haben.
Verführung zum Binge-Reading
„Esthers Tagebücher“ (Französisch: „Les Cahiers d’Esther“) sind in Frankreich so erfolgreich, dass sie auf dem Sender Canal 5 schon als animierte Cartoons zu sehen sind. Das passt zum Format: Wer einmal angefangen hat, Esther durch ihr Schuljahr zu begleiten, wird leicht zum „Binge-Reader“.
Nach dem Ende eines Bandes möchte man erfahren, wie es mit Esther weitergeht – wie sie sich persönlich entwickelt, wie es in der Schule läuft und wie es ihrer Familie geht. Auch die kurzen Episoden erinnern vom Aufbau her an eine Fernsehserie.
Die Seiten sind, bis auf wenige Ausnahmen, durchgehend und immer gleich in ein Gittermuster von drei mal vier fast quadratischen Panels eingeteilt, die das Serielle der „Tagebücher“ formell betonen.
Für neue Leserinnen und Leser ist der Einstieg dennoch immer möglich, die einzelnen Geschichten stehen für sich, sind aber durch die Rahmenhandlung verbunden. Neben Esther, die älter und größer wird und zunehmend ihre klugen Gedanken mit dem Autor teilt, ist da zum Beispiel noch ihr kleiner Bruder, der zu Beginn der Reihe noch gar nicht auf der Welt ist und mittlerweile laufen und sprechen kann.
Stoff für seine Arbeit findet Sattouf im wahren Leben
Auch für seine anderen Arbeiten findet Riad Sattouf, der noch als Drehbuchautor und Regisseur tätig ist, den Stoff in der Realität. Die hält, wenn man sein Schaffen betrachtet, offenbar jede Menge erzählenswerte Geschichten bereit. Zwischen 2004 und 2014 zeichnete er für das Magazin „Charlie Hebdo“ wöchentlich die Serie “Das geheime Leben der Jugend” – satirische Comicstrips auf der Grundlage tatsächlich beobachteter oder gehörter Szenen.
International bekannt wurde Sattouf durch seine autobiografische Graphic-Novel-Serie „Der Araber von morgen“, für die er 2015 auf dem Festival von Angoulême mit dem wichtigsten europäischen Comicpreis ausgezeichnet wurde. Bislang sind fünf Bände erschienen.
Gespannt sein darf man sicher auch auf den nächsten Esther-Band, in dem die Hauptfigur von ihren Erfahrungen mit Covid-19 und den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus erzählt. Der ist vor wenigen Tagen auf Französisch veröffentlicht worden, auf Deutsch dürfte er nächstes Jahr erscheinen.