Geliebter Blutegel

Tara Nome Doyle schmunzelt zuerst, als sie zugibt, dass sie ein sehr emotionaler Mensch ist. Dann lacht die norwegisch-irische Singer-Songwriterin: „Ja, das würde wahrscheinlich jeder um mich herum bestätigen.“ Hört man die Musik der 24-Jährigen, überrascht ihre Selbsteinschätzung nicht. Ihr neues Album „Værmin“ (Modern Recordings/ BMG) lässt die Hörerin durch ein etwa 40-minütiges Auf und Ab zwischen tiefer Traurigkeit, Ekel, Unbehagen, Geborgenheit und Freude rauschen.

Doyle sieht häufig das Ambivalente in Dingen, etwa in ihrer starken Emotionalität – da ist zum einen das Empfinden positiver Gefühle. Das sei ein Geschenk, sagt Tara Nome Doyle. Aber da sind eben auch die negativen Emotionen. „Die spürt man so sehr, dass der Drang, sie zu verarbeiten, unausweichlich ist.“ Und so spiegelt sich das Ambivalente, das den Dingen und Menschen innewohnt, auch in Doyles Musik. Das Konzeptalbum „Værmin“, das die in Kreuzberg geborene und aufgewachsene Künstlerin am 28. Januar veröffentlicht, lebt vom Spiel mit dem Dunklen und Hellen, dem Süßen und Bitteren, dem Hohen und Tiefen.

Sie nennt das Album ein „One-Woman-Musical“

Es erzählt die Geschichte einer toxischen Liebesbeziehung, die mit jedem Song immer zerstörerischer wird. Doyle verkörpert stimmlich beide Seiten, das Album ist ein „One-Woman-Musical“, wie sie sagt. Das Helle und Süße drückt sie mithilfe ihrer Kopfstimme aus. Das Dunkle, Bittere mit ihrer rohen Bruststimme. Letztere entdeckte sie erst kürzlich im Gesangsunterricht. Ihr Musiklehrer war damals ganz erstaunt, dass ihre Bruststimme nicht so ausgereift war, da diese im Pop eher gebraucht wird.

Doch recht schnell fand Doyle Freude daran, mit diesem unbekannten Teil ihrer Stimme zu experimentieren – auch wenn es sich noch immer komisch für sie anfühlt: „Es ist, als wäre ich eine andere Person. Das Gefühl im Körper ist ganz merkwürdig.“ Doch auch das akzeptiert die Musikerin als einen Teil von sich: „Die zwei Stimmen sind ein schönes Symbol für die zwei Persönlichkeiten, die ich in mir trage. Da ist das Sanfte auf der einen und das Rohe auf der anderen Seite.“ Da ist sie wieder, die Ambivalenz.

Im ersten Song des neuen Albums macht die Hörerin zuerst mit ihrer Kopfstimme Bekanntschaft. Sie kommt säuselnd und sanft daher, hat aber dennoch etwas Dramatisches. Der Song heißt „Leeches“, auf Deutsch: Blutegel. Sämtliche Lieder sind nach einem Insekt oder Ungeziefer benannt. In „Leeches“ geht es um das Märtyrersein in einer Beziehung, sagt Doyle.

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Sie singt darin: „I’ll bleed, if you want me to“, also: Ich werde bluten, wenn du das so willst. „Das Bild des Blutegels fand ich passend für eine toxische Beziehung, in der die eine Person nur nimmt – und die andere alles gibt.“ Hinzukommt, dass Doyle von klein auf eine Faszination für Insekten hatte, die bei anderen eher Ekel hervorrufen. Als Kind sammelte sie Schnecken und hielt Spinnen auf dem Balkon. Auch der Albumtitel spielt mit dem Motto: „Vermin“ heißt auf Englisch „Ungeziefer“. Und „Vær min“ ist norwegisch für „sei mein“.

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Als nächstes entstand „Leeches II“. Denn Doyle wollte auch die andere Seite der toxischen Beziehung beleuchten. „Es gehören immer zwei dazu. Die eine Person, die sich als Märtyrer sieht, könnte doch auch gehen, sich das nicht bieten lassen.“ Die Sängerin sucht Antworten darauf, warum sich manche Menschen in Beziehungen ausnutzen lassen.

Psychologie spielt in Doyles Songs eine große Rolle. Inspirieren ließ sie sich von den Theorien des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung: Die Musikerin griff sein Konzept der Persona und des Schattens auf. Die Persona ist die „Theatermaske“, der gesellschaftskompatible Teil der Persönlichkeit, also das Helle. Der Schatten ist das Gegenstück, das Dunkle, oft Unbewusste. Auf dem Album hört man den Schatten beispielsweise in dem Song „Moth“ – Motte, dem siebten von dreizehn Songs.

Darin singt Doyle mit tiefer, beschwörerischer Stimme: „There’s a method to my madness, I bottle up and sell my sadness.“ Mit den fatalistischen Geigen im Hintergrund kreiert Doyle eine düstere, mystische Stimmung, als säße sie nachts bei Kerzenschein in einer holzgetäfelten Stube und philosophierte dabei über ihren Wahnsinn.

Ein Semester war die Sängerin an der Humboldt-Universität für Psychologie eingeschrieben – doch am Ende war das mit dem Musikmachen zeitlich nicht vereinbar. „Ich habe schnell gemerkt, dass man nicht nebenbei Psychologie studieren kann“, sagt Doyle. In den Vorlesungen war sie immer gedanklich bei ihren Musikprojekten. Dass sie dennoch irgendwann noch mal Psychologie studieren wird, schließt sie nicht aus.

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Ihr erstes eigenes Lied hat Tara Nome Doyle vor etwa 13 Jahren geschrieben: Damals war sie elf Jahre alt und hatte gerade mit dem Klavierunterricht aufgehört, den sie zwei Jahre lang nahm. Der Grundstein für ihre musikalische Laufbahn wurde allerdings sehr viel früher gelegt. Im Alltag ihrer Kreuzberger Kindheit. Denn Doyles Mutter ist Norwegerin, ihr Vater Ire. Bei vielen Gelegenheiten wurde in ihrer Familie gesungen: Beim Spazierengehen, wenn Freunde zu Besuch waren, an Festtagen, vor dem Essen oder dem Schlafengehen. Die Lieder seien häufig gesungene Gebete, erzählt die Sängerin.

Allerdings verbinde sie die Musik weniger mit Religion als mit Familie und Geborgenheit, schränkt sie im Gespräch ein. Generell sei Musik für sie ein Ort der Geborgenheit. Die Melodien müssten dafür gar nicht lieb und süß sein. Oft seien es sehr energiegeladene Lieder, die dieses Gefühl in ihr hervorriefen. „Ich muss mich mit den emotionalen Schwingungen in dem Lied identifizieren können“, sagt Doyle und lacht. Da ist sie wieder, die Emotionalität.