„Kollateralschäden“ im Namen Gottes

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter.

Das Problem ist nicht zuerst die Sprache, es sind, es bleiben die Taten: Wie der Pfarrer H. in Essen Kinder missbrauchte, wie Bischöfe und Kardinäle dies wussten, wie der Pfarrer aber nicht sanktioniert, nicht angezeigt, sondern nach Bayern entsandt wurde und dort von Gemeinde zu Gemeinde, wo niemand gewarnt wurde, schon gar nicht Kinder und Eltern.

Die Taten sind, was denn sonst, systemisch. Es sind längst zu viele Fälle in zu vielen Staaten, als dass es noch Einzelfälle sein könnten; und überall, vom Deutschland des emeritierten Papstes bis zum Argentinien des amtierenden Papstes, schützte die katholische Kirche die Täter und damit sich selbst, nicht aber die, die sie hätte schützen müssen.

Doppelmoral und Männermacht

Das System Kirche bedeutet: eine geballte Männermacht, eine theoretische Verteufelung von Sexualität und eine damit einhergehende pragmatische Doppelmoral, eine Omertà-Mentalität, Hybris. Dieses ganze Gerede von Heiligen Vätern, von Dogma und Unfehlbarkeit, von Vergebung von Sünden.

In den USA ist vor einigen Tagen ein berauschend geschriebenes Buch erschienen, „Accidental Gods“ von Anna Della Subin. Es erzählt von Menschen, die zu Göttern erklärt wurden, damit das Leben, bisweilen auch Unterwerfung und Sklaverei, einen Sinn bekam.

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Zum Gott wurde Christoph Columbus, der 1492 notierte, diese „sehr schlichten Eingeborenen“ seien überzeugt, Columbus und dessen Armeen kämen „direkt aus dem Himmel“. Ähnlich erging es Hernán Cortéz, den die Azteken für die Reinkarnation ihres Gottes Quetzalcoatl hielten.

Zur Hybris Europas gehörte, dass über die Götter besiegter Völker gespottet wurde; ha, wieder ein Beweis für deren Unterlegenheit, folglich kein Grund für Zurückhaltung beim Massenmord. Die katholische Kirche fand auch nichts Widersprüchliches daran, dass sie sich selbst Götter und Gottgleiche erschuf, all die Propheten und Heiligen, all die Stellvertreter des Herrn auf Erden. Das erleichterte die Verklärung von Verbrechen: Kollateralschäden, denn im Namen Gottes geht’s um Größeres.

Wenn der Papst lügt

Das Problem sind nicht ausschließlich die Taten; die Sprache ist es auch. Joseph Ratzinger („Bild“: „Wir sind Papst“) hat bis heute keine Worte für die Opfer, und gelogen – wie jammerig, wie jämmerlich – hat Ratzinger, als er sagte, er habe an jener Sitzung, die den Pfarrer H. nach Bayern brachte, nicht teilgenommen.

So bigott wie ihr Vorbild Ratzinger agieren dessen Unterlinge. Seit Jahren, seit Jahrzehnten rufen die einst Wehrlosen über die Kirchenmauern, doch dahinter verstehen gestrenge Bischöfe diese Menschen als „Gefahr für die Institution“; das Resultat, so steht es in dem 1700 Seiten dicken Gutachten dieser Tage, sei eine „vollständige Nichtwahrnehmung der Opfer“.

In der Stadt Münster, 314 000 Einwohner, haben im vergangenen Jahr 4425 Christen die Kirchen verlassen. Warum? Münster ist meine Heimat, das schloss damals die Kirche ein: Ich war Messdiener, bin mit der Katholischen Studierenden Jugend in abenteuersatte Zeltlager gefahren, bin aufs Kardinal-von-Galen-Gymnasium gegangen. Ich schreibe diese Kolumne im einstigen Kinderzimmer, denn wir besuchen meine Eltern; unter dem Turm von St. Marien haben wir gestern die Covid-Tests gemacht.

Ich höre das auch hier: Eine Ursache all der Austritte sei die falsche Ansprache. Eher noch: die dröhnende Sprachlosigkeit.
Nichts hat Münsters Erzbischof zu Ratzinger zu sagen, wenig zur systematischen Vergewaltigung, zum systematischen Missbrauch von Kindern durch sogenannte Würdenträger; nichts übrigens sagt er auch zu Maria 2.0, jener Bewegung, die endlich Frauen in Ämter und Funktionen bringen will. Sinnvoll und an der Zeit ist das überall. Nötiger als in der katholischen Kirche ist es nirgendwo.