Das schlafende Raubtier
Ein Abschied. Oder eine Ankunft. Für jemanden wie sie schien das das kein großer Unterschied zu sein. Gleichgültig, tonlos heiser und mit einem diffusen Schmerz, der kaum je ihr stolzes Gesicht erreichte, ließ sie sich durch ihren Alltag treiben. Der Blick ging ins Leere, hinaus in seelenlose Stadtlandschaften, und hätte man ihn zurück ins Innere verfolgen können, wäre man wohl nur in einem anderen Nirgendwo angekommen.
Der Regisseur Michelangelo Antonioni gab dieser Leere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie kein anderer eine Form, und ihren verführerischsten, im Nichtexpressiven expressiven Ausdruck fand er in der Römerin Monica Vitti.
Sie war auch eine wunderbare Komödiantin, die mit durchaus boulevardesken Auftritten glänzte. Doch zum „Symbol unserer inneren Mythologie“, wie Italo Calvino schrieb, wurde sie als unrettbar verlorene Schönheit. Sie war noch keine 30 Jahre alt, als sie mit Antonioni den ersten von ingesamt vier großen Filmen drehte: „L’avventura“ (Das Abenteuer, 1959).
Mit jedem darauf folgenden, mit „La notte“ (Die Nacht, 1961) und „L’eclisse“ (1962), radikalisierte sie ihre Figur. Bis sich 1964 in Antonionis erstem Farbfilm „Il deserto rosso“ (Die rote Wüste) alle gezähmten Leidenschaften und angedeuteten Verzweiflungsmomente in einer handfesten Depression entluden. Sie war jedoch nicht etwa psychologisch angelegt, sondern in eine dampf- und rauchverhangene Industrielandschaft voller Schlote und Stahlskelette projiziert.
Monica Vitti spielte bei Antonioni immer Luxusgeschöpfe. Er schien sich für keine andere Schicht zu interessieren – und für die Nöte seines eigenen Geschlechts schon gar nicht. Es mag sein, dass sie vor allem die Neurosen höherer Töchter pflegt, wenn sie mit Freunden auf einem Boot lustlos durchs Äolische Meer pflügte, aufreizend gelangweilt mit Männern umging oder das blasierte Partygirl gab, das der allgemeinen Eitelkeit mit der Lektüre von Hermann Brochs „Schlafwandlern“ begegnete.
Existenzielle Sprachlosigkeit
Doch es war auch ein diagnostisches Porträt dessen, was von Gesellschaft übrigbleibt, wenn alle Fragen des unmittelbaren Überlebens geklärt sind und sich eine existenzielle Sprachlosigkeit breitmacht.
In Antonionis frühen Filmen herrscht ein Schweigen, das Natalia Ginzburg Anfang der 50er Jahre als das Laster ihrer Epoche schilderte, dem sich nur wenige Worte abringen ließen „wie Signale von Schiffbrüchigen, weit weg zwischen Hügeln entzündete Feuer, klägliche, verzweifelte Rufe, die der Raum verschlingt.“
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Maria Luisa Ceciarelli, die sich Monica Vitti nannte, hatte Michelangelo Antonioni 1957 beim Nachsynchronisieren von „Il grido“ (Der Schrei) kennengelernt. Bald entstand eine Arbeits- und Liebesbeziehung. Und wenn das schlafende Raubtier, als das Monica Vitti oft bezeichnet wurde, nach diesen kinematografisch so ertragreichen Jahren auch immer verspielter wurde, bestand sie doch darauf, nicht nur eine Rolle gespielt zu haben.
„Ich war so, wie er mich gezeigt hat“, erklärte sie zu Antonioni. Und so wird man sie in Erinnerung behalten: als eine Frau, die sich selbst ein Geheimnis blieb, das auch ihre Autobiografie und der Erzählband „Il letto è una rosa“ (Das Bett ist eine Rose) nicht aufzuklären vermochten – und deshalb andere wie die kanadische Dichterin Anne Carson zu einem großen Vitti-Zyklus anstiftete.
Im Heraufziehen einer degenerativen Erkrankung, die sie seit Langem zu einem Pflegefall machte, zog sie sich schon vor 20 Jahren aus der Öffentlichkeit zurück. Am Mittwoch hat sie nun mit 90 Jahren in Rom für immer die Nebel ihres Bewusstseins hinter sich gelassen.