Ohren auf und durch
Altbekanntes zu hören, löst angenehme Gefühle aus, den so genannten Wiedererkennungseffekt. Und nach dem streben viele Fans der Orchestermusik. Wer aber bereit ist, seine Ohren und seinen Geist zu öffnen, kann darüber hinaus gehen und eintauchen in neue Klangwelten – die vielleicht noch viel spannender sind als die Schallsphären des vertrauten Kernrepertoires. Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des „Musikfest Berlin“ wird nicht müde, das Publikum zu solchen akustischen Entdeckungsreisen einzuladen (Das „Musikfest“ startet am 27. August und läuft bis zum 19. September. Weitere Informationen zum Programm unter: www.berlinerfestspiele.de).
Die erste Afroamerikanerin, von der eine Sinfonie uraufgeführt wurde
Und er hat dabei – nach den Einschränkungen der Pandemiejahre – jetzt wieder Partner aus aller Welt an seiner Seite. Die mit besonderer Kompetenz für hierzulande unbekannte Werke aus ihren Heimatländern eintreten können. Das Philadelphia Orchestra beispielsweise. Gemeinsam mit ihrem Chefdirigenten Yannick Nézet-Séguin, der auch Musikdirektor der New Yorker Metropolitan Oper ist, haben die Musikerinnen und Musiker sämtliche Sinfonien der 1887 geborenen, afroamerikanischen Komponistin Florence Price aufgenommen.
In Berlin werden sie am 1. September den sinfonischen Erstling von Price präsentieren. Ästhetisch orientiert sich das Werk an Antonin Dvoraks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, für die Hauptthemen aber nutzt die Komponistin afroamerikanische Melodien, Spirituals, Gospel-Choräle oder auch den ursprünglich aus Westafrika stammenden Juba-Tanz. So entsteht eine ebenso eingängige wie – gemessen an den Avantgarden ihrer Zeit – altmodische Musik. In kräftigen Klangfarben malt Price wechselnde Stimmungsbilder, und wenn sie dabei das Orchester in allen Instrumentengruppen leuchten lässt, entstehen vor dem inneren Auge der Zuhörer:innen Bilder von der endlosen Weite des ländlichen Amerika.
Ein experimentierfreudiger Holländer
In Amsterdam ist Willem Pijper erstrangig: Im prächtigen Neorenaissance-Saal des Concertgebouw, der rundherum mit den Namen bedeutender Tonsetzer geschmückt ist, steht der 1984 geborene Komponist ganz vorne auf der Brüstung des „Balkon Noord“, in goldenen Lettern, zwischen Strawinsky und Ravel. Atonale Musik à la Schönberg lehnte er stets ab, zunächst stand er unter dem Einfluss von Gustav Mahler, in seiner 2. Sinfonie von 1921, die das Rotterdam Filharmonisch Orkest am 4. September in der Philharmonie interpretiert, zeigt er sich dann expressionistischer.
Die Partitur könnte auch der Soundtrack zu einem Stummfilm sein: Echte Großstadtmusik ist hier zu hören, atmosphärisch dicht, virtuos orchestriert, stilistisch schillernd, mit treibenden Rhythmen und scharfen Kontrasten. Es spricht für Lahav Shani, den jungen Chefdirigenten der Rotterdamer, dass er die Chance nutzt, beim Berlin-Gastspiel seines Orchesters für Pijper zu werben.
Das Odessa Philharmonic Orchestra kommt nach Berlin
Absolute Unkenntnis herrschte bis vor kurzem hierzulande auch noch, was Musik aus der Ukraine betrifft. Mit patriotischem Stolz machen sämtliche Ensembles, die jetzt im Rahmen von Solidaritätsaktionen nach Deutschland eingeladen werden, klar, dass sie aus einer Kulturnation kommen. Gleich drei verschiedene Komponisten stellt das Odessa Philharmonic Orchestra am 6. September vor: Myroslav Skoryk – mit Musik zum Film „Shadows of the forgotten ancestors“ -, den Romantiker Mykola Lysenko, der sich intensiv mit der ukrainischen Volksmusik beschäftigte, sowie Alemdar Karamanov, dessen 1968 komponiertes, hochvirtuoses 3. Klavierkonzert Tamara Stefanovich spielen wird.
Das Gastspiel aus Odessa hat Winrich Hopp kurzfristig organisiert: Sein „Musikfest“-Programm war lange schon fertig, als Russland die Ukraine überfiel. Plötzlich aber erschienen ihm die Gewichtungen „schief“, mit all den Gästen aus Italien, Großbritannien, den USA, Korea, Belgien und den Niederlanden. Er wollte auch eine Stimme aus der Ukraine dabeihaben.
Den entscheidenden Tipp bekam er von der Pianistin Elena Bashkirova und kontaktierte daraufhin Hobart Earle, den venezolanischen Dirigenten, der seit langem das Odessa Philharmonic Orchestra leitet. Der organisatorische Aufwand ist enorm, denn das Orchester kann nur über Zwischenstationen in Moldau und der Türkei nach Berlin gelangen. Doch es lohnt sich, denn so haben die Mitglieder erstmals seit dem Frühjahr überhaupt wieder die Möglichkeit, gemeinsam zu proben und aufzutreten.