Ich umarme das Gewöhnliche
Wolkenformationen, die sich am Himmel auftürmen, wie sie sich verfärben, rosa Schlieren bilden, Kaum senkt man den Blick, sieht alles schon wieder anders aus. Es ist rätselhaft, was daran so glücklich macht, in den Himmel zu starren, um sich ein Schauspiel anzusehen, das niemand inszeniert hat. Sind doch nur Wolken, kondensierte Wassertröpfchen, sichtbar durch die Streuung von Licht.Und doch gibt es etwas, das sich wie Resonanz anfühlt. Wer den Kopf zum Himmel hebt, fühlt sich überwölbt und geborgen, nicht ganz so wichtig und doch nicht allein. Man braucht nicht unbedingt einen Gott dafür.
Ralph Waldo Emerson, Begründer des amerikanischen Transzendentalismus, 1803 in Boston, Massachusetts, geboren, studierte Theologie und sollte wie sein Vater Pfarrer werden. Seine erste Frau, Ellen Louisa Tucker Emerson, starb früh an Tuberkulose, keine zwei Jahre nach der Hochzeit. Ein Jahr später öffnete er ihren Sarg und war schockiert. Aber das allein war es nicht, was ihn von seinem ursprünglichen Berufsweg abbrachte. Er hatte begonnen sich für Naturwissenschaften zu interessieren. Trotzdem ist kein Naturwissenschaftler aus ihm geworden. Die Natur war für ihn die „Projektion Gottes“, die „Exegetin des göttlichen Geistes“.
[Ralph Waldo Emerson: Tagebücher 1819-1877. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Jürgen Brôcan. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 917 Seiten, 68 €.]
Beeinflusst vom Deutschen Idealismus, entwarf er den Transzendentalismus in Abgrenzung zur Theologie. Er wollte die Gegenüberstellung von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie überwinden, wie der Herausgeber in einer Anmerkung schreibt. 1843 notiert Emerson: „Ein Transzendentalist oder Realist unterscheidet sich von einem Kirchenmann darin, dass er sein Bekenntnis auf schlichte Wahrnehmung begrenzt und im Glauben die Befugnis der eigenen Erfahrung (geistig & sinnlich) niemals überschreitet.“
Denken des Neuanfangs
Das Individuum mit seiner Wahrnehmung und Erfahrung steht im Zentrum seines Denkens, eingebettet nicht nur in die Weite der amerikanischen Natur, sondern auch in die politischen Friktionen der jungen Vereinigten Staaten und ihrer Absetzbewegungen von Europa. Dieses Denken eines Neuanfangs eignet sich vorzüglich, um es im sprunghaften Duktus des Tagebuchs kennenzulernen.
Die Auszüge aus rund 250 Tage- und Notizbüchern, die in der umfangreichen amerikanischen Edition 16 Bücher mit insgesamt 8500 Seiten umfassen, hat Jürgen Brôcan so zusammengestellt, dass man Emersons Denken im Werden zusehen kann. Anders als in der bisher einzigen schmalen deutschen Auswahl-Edition von 1954 legt er den Schwerpunkt weniger auf biografische Stationen und die Auseinandersetzung mit Vorläufern und Zeitgenossen, als auf das Denken selbst.
So weht durch dieses Buch der frische Wind eines Neuanfangs, obwohl die Ideen von Ralph Waldo Emerson und des Philosophenzirkels, der sich in der Kleinstadt Concord um ihn versammelte, eigentlich so durchgenudelt sind, dass sie sowohl popkulturell, aphoristisch und aktivistisch als auch in der feinsinnigen Gattung des Nature Writing wie eine sechsspurige Autobahn durchs Gebirge der Philosophie führen.
Was vielleicht am meisten beeindruckt: wie Individualismus und Naturbetrachtung sich wechselseitig stützen. Das Ich formt im Angesicht der Natur seine Eigenheiten aus. Und sie ist ein weit besserer Resonanzboden für seine Stimmungen – Emerson selbst benützt gern optische Metaphern –, als die menschliche Gesellschaft. Zwischen dem Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit auf der einen Seite und der Anregung durch Geselligkeit sowie das Wissen um die soziale Natur des Menschen auf der anderen Seite war Emerson hin und her gerissen.
Es finden sich zauberhafte Formulierungen für die verschiedenen Zustände, eine Mischung aus pointierter Knappheit und einem gewissen Laissez-faire des gelassenen Vor-sich-hin-Schreibens. 1836 erschien sein erster Essayband, „Nature“, der ihn bekannt machte. Wochenlange Vortragsreisen fand er ebenso beschwerlich wie deren Vorbereitung.
Tändelnder Umgang mit der Natur
Als Ehemann, Familienvater, Philosoph, Herausgeber, Vortragsreisender, Schriftsteller wurde die Zeit immer knapper, die er doch eigentlich für die tändelnde Art seines Umgangs mit der Natur brauchte. Am 12. Februar 1841 notierte er sehnsuchtsvoll: „Würde die Welt nur einen Moment warten, könnte hin & wieder ein Tag eingeschaltet werden, der nicht Zeit wäre, sondern Rast & Landeplatz, ein Urlaub, in dem Sonne & Stern, Alter & Verfall, Schulden & Geldsachen, Forderungen und Pflichten sämtlich ausgesetzt und für eine halkyonische Trance unterbrochen sind, sodass die armen Männer & Frauen das Geschirr abwerfen, langen Atem schöpfen und überlegen können, was sich tun ließe ohne das quälende Wissen, dass sich neue Pflichten in dem Augenblick sammeln, in dem sie über den allzu großen Haufen alter Pflichten nachdenken.“
Trotz ausgedehnter Reisen, darunter mehrmonatige Reisen nach Europa, war er ein Verteidiger des heimischen Umkreises. Der Walden Pond, berühmt nicht zuletzt durch das Buch seines Schützlings Henry David Thoreau, ist nur einer der Seen, deren Wandel durch die Jahreszeiten immer wieder beschrieben wird. Am 4. August 1837 notiert er: „Ich frage nicht nach dem Bedeutenden, dem Fernen, dem Romantischen, nach Italien und Arabien, nach der griechischen Kunst oder den provenzalischen Minnesängern; ich umarme das Gewöhnliche; ich entdecke und sitze zu Füßen des Vertrauten, des Niedrigen. Gebt mir Einblick ins Heute, dann habt ihr die einstigen und künftigen Welten.“
Politischer Kopf
Bei aller Naturseligkeit war Emerson ein politischer Kopf. Er bezog Stellung gegen die Sklaverei und engagierte sich mit seiner zweiten Frau Lidian in einer Gruppe aus Concord, die entflohenen Sklaven zur Flucht verhalf. Wie sich durch den Bau der Eisenbahn Stadt- und Landleben vereinbaren lassen, nahm er ebenso wahr wie die ersten negativen Effekte der Beschleunigung des modernen Lebens durch Dampfmaschine und Telegrafie.
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Und er sah, dass das „Börsenwesen“ als „Kennzeichen des Städtezeitalters“ jeden Dienst sinnlos werden lässt, der nicht mit Geld bezahlt wird. Die Verwandlung des Orts von einer Sphäre des Aufenthalts zu einem Knotenpunkt der Durchreise war ihm suspekt. In einer Notiz von 1853 heißt es: „Kommt zurück aus Kalifornien oder Japan, aus dem Himmel oder dem Höllenpfuhl, ihr findet mich dort, wo ich war.“
Die letzten Jahre seines Lebens waren von einer Alzheimererkrankung überschattet. Er starb am 27. April 1882 in Concord und wurde auf dem Sleepy Hollow Cemetry beerdigt. Jürgen Brôcan hat seine Auswahl für den Matthes & Seitz Verlag in ein einfallsreiches Deutsch voller liebevoller Details gebracht – etwa, wenn von einer „Mondin“ die Rede ist. Ausgesprochen schön gestaltet, sind diese Tagebücher eine wahre Fundgrube für Naturbeschreibungen, die mit großer Gelassenheit in Denkbewegungen übergehen. „Für sich genommen hat die Naturkunde keinen Wert“, ahnte Emerson früh. „Doch vermählt man sie mit der Menschenkunde, dann ist sie Poesie.“