Für die Kultur ist die Saison wohl gelaufen
Wir dürfen nicht mal draußen spielen. Alle Appelle waren umsonst: Das neue Infektionsschutzgesetz setzt die Kultur bei Inzidenzwerten von über 100 komplett auf Null, in Innenräumen wie im Freien bleibt sie im Lockdown.
„Die Öffnung von Einrichtungen wie Theatern, Opern, Konzerthäusern, Bühnen, Musikclubs, Museen, Ausstellungen, Gedenkstätten sowie entsprechende Veranstaltungen sind untersagt; dies gilt auch für Kinos mit Ausnahme von Auto-Kinos“, heißt es im „Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, das am Donnerstag auch den Bundesrat passierte, vom Bundespräsidenten unterzeichnet wurde und am Freitag in Kraft tritt.
Die Verordnung gilt bundesweit bis Ende Juni, sie tritt nur dort außer Kraft, wo die Inzidenz fünf Werktage lang unter 100 liegt. Dann kann das betreffende Bundesland Öffnungen zulassen – muss es aber nicht.
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Die Saison dürfte also gelaufen sein, mit voraussichtlich wenigen lokalen Ausnahmen. Die Politik hat das nicht weiter gekümmert. In der leidenschaftlichen Bundestagsdebatte wurde die erhebliche Einschränkung der im Grundgesetz verankerten Kunstfreiheit nicht einmal erwähnt, anders als die Ausgangssperre.
Was auch daran liegen mag, dass die Kultur im Kanzleramt angesiedelt ist. CDU-Kulturstaatsministerin Monika Grütters kann kaum gegen ihr eigenes Haus argumentieren. Ihre Behörde verbreitete pünktlich zum Beschluss der Notbremse dennoch eine gute Nachricht: Die Laufzeit des „Neustart Kultur“-Programms wird bis Ende 2022 verlängert, nicht zuletzt wegen weiterer unvermeidlicher Verschiebungen von Veranstaltungen. Grütters begrüßt das „grüne Licht“ aus dem Haushaltssausschuss als entscheidenden Schritt, damit die zusätzliche Milliarde für das Programm ihre volle Wirkung entfalten kann.
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Das für Gastronomie, Hotellerie, Freizeit- und Kultureinrichtungen gleichermaßen existenzbedrohende Stoppschild ist angesichts der dritten Welle und der Lage in den Intensivstationen unausweichlich. Aber dass das Aus für die Künste im Parlament der Kulturnation Deutschland weiter keinen scherte, erschüttert dann doch. Die Buchläden immerhin bleiben offen, will heißen: Belletristik-Lektüre, Autokino-Besuch, virtuelle Museumsbesuche und Filmstreamings sind weiterhin möglich. Ansonsten herrscht Sendepause.
Zum zweiten Mal kein Theatertreffen
Die Notbremse tritt voraussichtlich ab Anfang nächster Woche in Kraft. Dann werden die Staatlichen Museen Berlin (aktuelle Inzidenz 150) ihre Zeile „Aktuell geöffnet sind ausgewählte Häuser …“ schweren Herzens ändern müssen. Dann kann auch die „Draußenstadt“ für die Club- und Kulturszene ihre Frühjahrspläne zu den Akten legen, die der Berliner Senat mit sieben Millionen Euro fördert.
Die Beispiele sind zahllos. Zum zweiten Mal kein Theatertreffen im Mai. Die Veranstalter der Lit:Potsdam (Inzidenz 104,8), die Anfang Juni live über die Bühne gehen, zeigen sich hingegen optimistisch, dass die Notbremse bald anschlägt. „Alle unsere Veranstaltungen finden ja draußen statt”, so der Vorstandsvorsitzende Richard Gaul.
Die auf Anfang Mai verschobenen Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker sind jedoch gecancelt – wobei das Orchester dank der Digital Concert Hall weiter Livekonzerte ohne Saalpublikum veranstalten kann, zum Beispiel Tschaikowskys Oper “Mazeppa”, konzertant mit Kirill Petrenko am 15. Mai. Wegen des Probelaufs mit dem „Pilotprojekt Testing“ ist der Scharoun-Bau auch in der Lage, schnell wieder zu öffnen, wenn die Zahlen es erlauben.
Könnte die Impfkampagne noch so viel Tempo aufnehmen, dass die Werte in Berlin bis Anfang Juni dauerhaft unter 100 gesunken sind – und die Publikums-Berlinale ab 9. Juni doch noch eine Chance hat? Unwahrscheinlich. Mit Ausnahme von wenigen Wochen im Herbst wird der Kultur-Lockdown wohl 16 Monate währen, mindestens.
Vergeblich hatten die Links-Fraktion, der Deutsche Kulturrat und einzelne Politiker wie Berlins Kultursenator Klaus Lederer oder sein Hamburger Kollege Carsten Brosda dafür getrommelt, wenigstens für Freiluftveranstaltungen und Modellprojekte mit Öffnungs-Testläufen eine Ausnahme zu machen. Bei allem ausdrücklichen Einverständnis mit den Verschärfungen hält der Kulturrat ein Komplettverbot für nicht nachvollziehbar: „Ohne Kultur verliert man die Hoffnung“. Deshalb hatte der Rat konkrete Änderungsvorschläge unterbreitet, umsonst.
Lederer kann sich einen Sommer ohne Open-Airs nicht vorstellen
Ebenfalls umsonst: Lederers Warnung vor dem Abschneiden jeglicher Perspektive für die Kultur. Einen Sommer ohne Open-Airs könne er sich nicht vorstellen, sagte der Linken-Politiker. Parks, Gärten, Freiflächen und freie Plätze seien keine Gefahrenherde, „sondern Orte, an denen Kontakte, die in Innenräumen problematisch sind, am schnellsten wieder möglich werden“. Hamburgs Kultursenator Brosda zeigte sich in einem „Zeit“-Beitrag fassungslos ob der Verwüstungen, weil die Kultur „bloß als lästiger Nebenwiderspruch“ behandelt wird.
Noch sind viele Kultureinrichtungen zurückhaltend mit Reaktionen. Während das Berliner Konzerthaus laut Intendant Sebastian Nordmann weiter Konzerte mit Publikum plant, sobald die Gesetzeslage es zulässt und auf sein 200-Jahr-Jubiläum Ende Mai hinweist, vermisst Sabine Chwalisz von der Fabrik Potsdam, Vorstandsmitglied im Brandenburger Landesverband der Freien Theater, Überlegungen mit Blick auf die vorhandenen klugen Konzepte der Kultureinrichtungen. Die Kurzfristigkeit der Verordnungen samt Ausnahmeregelungen schaffe weiter Verwirrung.
Das Gallery Weekend (30. April bis 2. Mai) hat sich bereits darauf eingestellt, dass die 49 beteiligten Galerien geschlossen werden könnten. Galerien zählen zum Einzelhandel. Da auch Click & Meet mit der Notbremse nicht mehr zulässig ist, findet das Weekend wohl digital statt. Neben Zoom-Touren für Kunstsammler und Professionals werden am 1. und 2. Mai öffentliche Führungen angeboten, auf der Webseite des Weekends werden die Ausstellungen online präsentiert. Da sie für eine Laufzeit von mindestens sechs Wochen aufgebaut sind, könnten die Galerien ihre Räume wieder öffnen, sollten die Pandemie-Zahlen dies doch noch erlauben.
Die Juni-Berlinale als Freiluft-Festival wäre ein wichtiges Signal
Die Berlin Music Commission spricht von einem Desaster. Deren „Fachgruppe Veranstaltungswirtschaft“ verweist auf den offenen Brief von Aerosolforscher:innen, die auf die geringe Infektionsgefahr im Freien hinweisen. Den Clubs, Venues, Spielstätten und Dienstleister:innen werde jegliche Planungsperspektive und somit das letzte Fünkchen Hoffnung genommen.
Christine Berg vom Hauptverband der Filmtheater und Christian Bräuer von der AG Kino äußern sich ähnlich. Beide betonen, Gesundheit und Sicherheit hätten oberste Priorität, sind aber enttäuscht darüber, wie wenig den Besonderheiten der Kultur und der Filmbranche Rechnung getragen wird. „Warum nicht mit bewährten Hygienekonzepten Kultur draußen möglich sein soll, verstehen wir nicht“, so Bräuer.
Die Juni-Berlinale wäre selbst als reines Open-Air-Festival ein wichtiges Signal des Aufbruchs für die Stadt und die Filmwelt. Auch appelliert er an die Verantwortlichen, endlich einen echten Zukunftsplan für die Kultur nach der Pandemie zu entwickeln.
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Christine Berg spricht von einem „Berufsverbot auf noch unbestimmte Zeit“, von einem schweren Schlag für die Kinos: Die Überbrückungshilfen müssten endlich unverzüglich ausgezahlt werden. Sie hebt hervor, wie wichtig möglichst einheitliche bundesweite Filmstarts sind, lokale Inzidenzen als einziges Öffnungskriterium seien für den Film fatal. Kein Verleiher möchte Titel nur nach Schleswig-Holstein geben, dem derzeit einzigen Bundesland mit einer Inzidenz unter 100.
Und die Theater? Haben es ebenfalls mit am schwersten, denn sie brauchen wie die Kinos einen Vorlauf, wenn sie wieder öffnen wollen. Bereits 2020 war die Idee einer Sommersaison anstelle der üblichen Theaterpause erörtert worden, unter anderem von Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier. Aktuell meldet das Theater Dessau, dass es offensiv auf Sommerbespielung setzt, mit einem Freiluftprogramm bis zum 11. Juli im Rathaushof, im Tierpark und im Gartenreich Wörlitz. Da geht noch was, vielleicht.
Schneller Impfen: Auch für die Kultur wird das Piks-Tempo jeden Tag mehr zur Überlebensfrage.
Mitarbeit: Birgit Rieger, Frederik Hanssen