Unsere Kunst ist politisch, umso mehr in Zeiten des Krieges
Ich bin nie ein Sommer-Fan gewesen, die heißen Tage empfand ich schon immer als Qual. Heute liege ich im Bett in einem alten Hotel in Kassel ohne Klimaanlage, und die Lufttemperatur drinnen ist genauso hoch wie draußen, ich schwitze und versuche zu schlafen. Ich schließe die Augen und stelle mir Orte vor, an denen ich schon einmal war und es wärmer ist als hier. Zum Beispiel Budapest, dort spielte ich oft mit meiner Band RotFront beim Sziget Festival und hatte das Gefühl, ich schmelze.
Auf der Bühne hatten wir zwar Spaß, aber davor und danach versuchte ich meine Zeit ausschließlich vor dem Ventilator mit einem eiskalten Getränk zu verbringen. An die Budapester Hitze zu denken, hilft mir leider nicht. Ich bin zu müde, um ein Buch zu lesen, also nehme ich das Handy und lese meinen Facebook-Feed.
Lustig, dass ich daran denken musste, gerade ist das Sziget-Wochenende, stelle ich fest. Ich sehe, Freunde von mir sind da – zum Beispiel die Jungs von der Amsterdam Klezmer Band, die gut gelaunt in Shorts und T-Shirts vor dem Logo der Global-Village-Bühne posen.
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Dann erinnere ich mich an die Diskussion unter den Ukrainern meiner Facebook-Bubble, die ich vor ein paar Wochen mitbekommen und dann vernachlässigt habe, ohne herausgefunden zu haben, wie es ausging. Auslöser war die Teilnahme von 13 ukrainischen Acts am Sziget Festival – neben drei russischen. Es gab Stimmen, die deswegen zum Boykott aufriefen, damit die russischen Acts ausgeladen werden.
Das ist ein Verrat von allem, wofür unser Land gerade kämpft, schrieben manche. Unsere Kultur ist politisch, umso mehr in Zeiten des Krieges. Welches Zeichen setzen wir mit einem gemeinsamen Auftritt der Ukrainer und russen vor dem europäischen Publikum?! Ist es nicht die Legitimierung der russischen Kultur?, fragten die anderen.
Was ist effektiver – die Stille oder der laute Auftritt?
Seit Kriegsbeginn ist es nicht das erste Mal, dass solche Fragen gestellt werden, noch öfter tauchen sie seit Beginn der großen Invasion russlands auf. Wie sollten sich die ukrainischen Künstler*innen in dieser Situation verhalten – auf ihrem Schlachtfeld, wo sie auch Krieg führen müssen, wie oft behauptet wird? Was ist effektiver – die Stille, die durch den Verzicht auf einen Auftritt entsteht, oder eine laute Stimme bei einem solchen Auftritt?
Auch wenn man sich eine möglichst klare Antwort darauf wünscht, gibt es sie nicht. Was hätte ich dazu gesagt, hätte man mich gefragt? Ich glaube, man sollte differenzieren. Was heute zählt, ist die Wirkung. Im Fall Sziget sollte man überlegen, ob ein Boykott von in Europa relativ unbekannten ukrainischen Bands mehr bringt als 13 Festival-Auftritte, bei denen man über die aktuelle Lage in der Ukraine erzählen könnte?
Lese ich Posts in meinem Feed, so sehe ich, dass manche der teilnehmenden Künstler bei der Herausforderung in Budapest wahrscheinlich doch das Maximum erreicht haben. Laut der Band Ragapop hatte das Festival ursprünglich vor, das Ukraine-Spezial als „Ukrainian Night for Peace“ anzukündigen, aber nach Gesprächen mit den ukrainischen Teilnehmern wurde dieser Slogan in „Ukrainian Night for Freedom“ abgeändert.
Ein Plakat zeigt Musiker, die gerade an der Front sind
Die Band Kazka spielt am Sonntag auf der Hauptbühne, bei ihrem Set machen ukrainische Geflüchtete mit. Das klingt nach einem starken Statement. Tausende Menschen werden es gehört haben. Ich bin mir sicher, dass in der Festivalgeschichte noch nie eine ukrainische Band auf der größten Bühne stand. Außerdem gibt es auf dem Gelände eine Ausstellung über den Krieg und die Möglichkeit, mit Geldspenden diverse ukrainische Initiativen zu unterstützen.
Auf Facebook stoße ich auf ein Foto von einem Plakat, das dort zu sehen ist, und es bricht mir das Herz. Darauf sind ukrainische Musiker abgebildet, die gerade an der Front sind. Ob es das alles gegeben hätte, wenn die Ukrainer Sziget boykottiert hätten?