Erinnern und durcharbeiten
Manchmal gibt es diese entspannten Zeiten, da traben das private und das öffentliche Leben gemütlich nebeneinander her. Man nimmt zur Kenntnis, was geschieht, aber die politischen Ereignisse scheinen das eigene Leben nur punktuell zu berühren. Man könnte das den Nullzustand der Normalität nennen, beargwöhnt oder geschätzt, je nach Perspektive, die auch mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu tun hat. In Zeiten des Umbruchs, der Revolution oder der weltweiten Krise funktioniert das nicht.
Anders als es der Slogan der 68er-Bewegung will, wird nicht das Private politisch, sondern die Politik bestimmt, was im Privatleben geschieht. Sie greift aktiv ein in unsere Existenz. Wie immer man zu den eindämmenden, vor- und versorgenden Maßnahmen gegen die Sars-CoV-2-Pandemie steht, als Lebensgefühl wird es prägend gewesen sein, wenn wir uns irgendwann in der Zukunft an diese Zeit erinnern.
Das Leben der anderen
Hat Zeitgenossenschaft nicht etwas Unheimliches? Was teilen wir, über die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen hinaus? Ulrike Edschmid ist seit Jahren eine stille und genaue Beobachterin dieses Phänomens. Ihre Romane haben mit dem eigenen Leben zu tun, aber sie sind keine autofiktionale Prosa, in der das Ich der Schreibenden, wie wahrhaftig oder fiktiv auch immer, im Zentrum steht. Im Gegenteil. Ihre Erzählerinnen sind eher Gefährtinnen, Begleiterinnen eines anderen Lebens. Dieses andere Leben steht im Mittelpunkt, geschildert aus der Perspektive der – manchmal ehemals – nahen Person.
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Edschmid hat über ihre Mutter geschrieben („Die Liebhaber meiner Mutter“), über ihren früheren Lebensgefährten, den Schweizer Filmemacher Philip Werner Sauber, mit dem sie in einer West-Berliner WG wohnte und der als Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde („Das Verschwinden des Philip S.“). Sie schrieb über den fatalen Sturz ihres Mannes von einer Leiter, der zu einer Querschnittslähmung führte, und wie er sich zurückkämpfte ins gemeinsame Leben, das sie in derselben Charlottenburger Wohnung fortführen („Ein Mann, der fällt“). Nun schreibt sie über die Beziehung zu einem anderen geliebten Mann. In ihrem Roman „Levys Testament“ heißt er nur „der Engländer“. Gibt man einige nicht verfremdete Angaben in die Suchmaschine ein, ist der Londoner Theaterregisseur Brian Michaels als Vorbild zu erkennen.
Ulrike Edschmid erzählt ihre Geschichte wie eine Folge von Standfotos aus dem zeitlichen Ablauf eines Films. Es gibt eine gewisse Chronologie, deren roter Faden das sich in Freundschaft verwandelnde Liebesverhältnis ist, aber der Akt des Nachsinnens, kurz und konzentriert, spielt eine ebenso große Rolle. Ohne Pathos, aber doch mit einer Spur Melancholie mündet er immer wieder in Sätze von leuchtender Klarheit. Lebenssplitter werden in die Hand genommen, Verbindungen hergestellt, Brücken über Jahrzehnte. Das Zufällige einer Biografie verbindet sich mit Schnittstellen, an denen die Zeitumstände wie Blaupausen sichtbar werden. Dabei entsteht der seltsame Halo-Effekt von intimen Momentaufnahmen mit zeithistorischer Aura, ähnlich wie bei journalistischen Fotos, die im Lauf der Zeit ikonografisch werden.
Übernachten in Abbruchhäusern
Sie lernen sich im Winter 1972 kennen. Die Erzählerin will ein paar Tage raus aus der polizeiüberwachten Kreuzberger Fabriketage und geht mit auf eine Exkursion der Berliner Filmakademie, an der sie studiert. Auch in London vibriert die Luft von politischer Energie und Gewalt. Sie schläft in Abbruchhäusern. An den Küchentischen der WGs werden Manifeste und Zeitungsartikel verfasst oder gleich der Umsturz geplant. Eines Nachts kriecht ein Mann zu ihr ins Bett, „der Engländer“.
Ihre Beziehung oszilliert zwischen nah und fern, im geografischen und im übertragenen Sinn. Im Hin und Her zwischen London und Berlin, zwischen Abschieden und Reisen entsteht das Netz des Zeithistorischen. Die Anschläge der IRA sind als ständige Drohung präsent, an Straßenkreuzungen, in der U-Bahn, auf Flughäfen. Freunde werden verhaftet und verurteilt, man besucht Gerichtsverhandlungen und ist erschüttert über willkürlich hohe Strafen. Die Nelkenrevolution in Portugal lässt hoffen, der Tod Francos. Mit dem Citroën-Kastenwagen reisen sie durch Südeuropa. Ihr kleiner Sohn wohnt so lange bei seinem Vater.
Der Stolz der Arbeiterklasse
Der Engländer stammt aus einer jüdischen Familie. Auch wegen der IRA-Attentate zieht er zu ihr nach West-Berlin, wo er als Fabrikarbeiter und Englischlehrer arbeitet, ohne sich je zu Hause zu fühlen. Später ziehen sie gemeinsam nach Frankfurt, für ihn der „richtige Ort“, nicht zuletzt, weil er als „proletarischer Libero“ in der linken Fußball-Szene am Ostpark reüssiert. Dass er bei Degussa jobbt, ist für die Erzählerin unbegreiflich. Er aber definiert sich nicht über seine jüdische Herkunft, sondern als Angehöriger der „working class“.
Die Frage der Herkunft spielt eine zentrale Rolle in „Levys Testament“, aber sie dreht und verdreht sich mehrmals auf abenteuerliche Weise. Sein Vater verlor über seine Familie nur den Satz: „They did not look after me.“ Jahre nach seinem Tod meldet sich eine Cousine: Er sei das Missing Link des gemeinsamen Stammbaums. Bei einem Treffen der Großfamilie wird das aus einem Nachlass aufgetauchte Testament seines Urgroßvaters, eben jenes titelgebenden Levy, aus dem Jahr 1937 verlesen. Der Engländer erfährt eine tragische Familiengeschichte, die sich stark verändert, als er die Legende selbst recherchiert. Eins aber bleibt gleich: Obwohl ihn die Familie aufzunehmen scheint, wird er sofort wieder ausgeschlossen, zumindest in Hinsicht auf mögliche Erbansprüche.
Fußball als Konstante eines Männerlebens
Die Geschichte ist verwickelt wie ein abgründiger Krimi, der in Londons Unterwelt führt. Doch die 1940 in Berlin geborene und in der Rhön aufgewachsene Schriftstellerin setzt andere Akzente. Sie folgt dem Leben des Freundes mit jener zugewandten Aufmerksamkeit, die jedem Detail Sinn abringt. Er gründet das erste Immigrantentheater der BRD in Frankfurt, mit Jugendlichen der italienischen Gastarbeiter-Generation. Er bleibt Theatermann, tourt durch Europa, steigt in die oberste Liga auf, unterrichtet schließlich im polnischen Bytom, im Herkunftsland seiner Eltern, bis sein Vertrag unter der PiS-Regierung nicht verlängert wird. Die Liebe zu Tottenham Hotspur, die er mit seinem Vater teilte, und die Liebe zu Shakespeare sieht die Erzählerin als einzige Konstanten dieses Männerlebens. Kurz nach der Shoah in eine schweigende Familie hineingeboren, deutet sie die Kombination von Shakespeare und Tottenham als eine Art Heimat, stabiler als die eigene Familie.
Edschmid arbeitet mit der Suggestivkraft zeitgeschichtlicher Indices, ihr Stil verbindet Reportage und Verdichtung. Durch den ständigen Wechsel zwischen Präsens und Vergangenheitsform erzeugt er eine spezielle Form hyperrealistischer Wahrnehmung, die dem Einzelfall gerecht wird und doch über ihn hinausgeht. Ihr Verfahren lässt an Gerhard Richters RAF-Zyklus, „18. Oktober 1977“, denken, bei dem er die ikonografischen Fotos der im Gefängnis Stuttgart-Stammheim tot aufgefundenen Terroristen mit einem Episkop auf die Leinwand projizierte und in Bilder übersetzte. Ulrike Edschmids Werk scheint einer ähnlichen Logik zu folgen, wie sie Gerhard Richter beschreibt, der „Logik von Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (Ulrike Edschmid: Levys Testament. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.144 Seiten, 20 €.)