Wichtigste Ausstellung beim Steirischen Herbst: So friedlich ist Österreich dann doch nicht

Als Mykola Ridnyi 2008 an der Schwarzmeerküste seinen Film drehte, bei dem Quallen zum Sound von Düsenjets auf einen friedlichen Strand mit dösenden Anglern im Hintergrund klatschen, da ahnte noch niemand, wie bald sich das Setting passend zu dieser Geräuschkulisse verändern würde. Sechs Jahre später wurde von den Russen die Krim annektiert.

Heute zuckt man selbst in Österreich zusammen, wenn wieder so eine wabbelige Molluske als Geschoss in Ridnyis Video auf dem Sand landet. Der Krieg ist näher gerückt. Und in den Zeitungen, die in den Grazer Kaffeehäusern ausliegen, wird darüber spekuliert, ob dieser mit den Pipeline-Havarien nicht schon längst inmitten West-Europas angekommen ist.

Ridnyis Video im barockisierenden Treppenhaus der Grazer Neuen Galerie bildet das Entree zur Hauptausstellung des Steirischen Herbstes. Es könnte nicht passender sein zu einer Schau mit dem Titel „Ein Krieg in der Ferne“, den Intendantin Ekaterina Degot lange vor Ausbruch des russischen Überfalls auf die Ukraine auch für das gesamte Festival als Motto gewählt hatte.

Mykola Ridnyis Video „Seacoast“ (2008).
Mykola Ridnyis Video „Seacoast“ (2008).
© Mathias Voelzke

Die Moskauer Kunsthistorikerin, deren Vertrag gerade verlängert wurde, hatte in den Bildern der Sammlung aus dem 19. und 20. Jahrhundert so viele versteckte Hinweise auf Kriegsgeschehen entdeckt, dass es sie reizte, das Verborgene offensichtlich zu machen und durch aktuelle Arbeiten zu akzentuieren.

Das bisherige österreichische Selbstverständnis sah anders aus. Das „glückliche Austria“ verheiratete sich angeblich lieber mit anderen Herrscherhäusern, als sie zu bekämpfen, wie ein berühmt gewordener Spruch Kaiser Maximilians I. behauptet. Die trutzigen Wallanlagen von Graz sprechen eine andere Sprache.

Eröffnungswochenende mit Happening

Ekaterina Degot hat damit Österreichs bekanntestes Mehrspartenfestival nochmals stärker in Richtung bildender Kunst manövriert. Lag der Schwerpunkt früher beim Performativen, so zeugen diesmal nur noch ein Video und riesige Pappmaché-Köpfe im Schaufenster eines Edelausstatters im Zentrum vom Happening des Eröffnungswochenendes.

Umzug am Eröffnungswochenende in Graz.
Umzug am Eröffnungswochenende in Graz.
© Mathias Voelzke

Der libanesische Künstler Raed Yassin hatte eine Puppenparade aus den 1980er Jahre in Beirut reinszeniert, die damals künstlerischen Widerstand gegen den Libanon-Krieg manifestierte. Nicht geplant, aber wie bestellt, verlieh ein kollidierender realer Feuerwehreinsatz dem eher fröhlichen Happening in der Grazer Innenstadt Nachdrücklichkeit.

In der Neuen Galerie herrscht dagegen die gepflegte Beschaulichkeit des Museums, auch wenn einem die aktuellen Bezüge zur politischen Weltlage im Nacken sitzen. Neben Ridnyis Video erinnert der Beitrag einer weiteren ukrainischen Künstlerin daran. Die minimalistischen Skulpturen Zhanna Radyrovas empfangen das Publikum noch vor dem wieder geöffneten historischen Eingang. Die Bildhauerin schuf sie aus Blechen, die durch Einschusslöcher wie gesprenkelt aussehen und von der Front stammen. Eine weiße Lackschicht hebt die martialische Perforation nur noch mehr hervor.

Das „glückliche Austria“ verheiratete sich angeblich lieber mit anderen Herrscherhäusern, als sie zu bekämpfen.

Nicola Kuhn

Über das Weiß der Moderne philosophiert auch der erste Saal des Ausstellungsparcours und konfrontiert Hugo Cordignanos Gemälde mit Wäscherinnen von 1918/19 mit Friederike Anders’ Video von 1979, das Filmszenen mit „Frauen in Weiß“ hintereinandermontiert. Die Verbindung ist ziemlich weit hergeholt wie bei so mancher Kombination des Parcours.

Raunen über faschistisches Gedankengut am Anfang des Festivals

In glücklichen Momenten erhellen sich die Werke gegenseitig. 1945-50 malte Karl Jirak ein Gehöft in der Untersteiermark, neben dem ein Flüchtlingstreck mit Pferdefuhrwerken campiert. Dazu passt nur zu gut das hinreißende Video von Aslan Goisum. Der aus Grosny stammende Künstler filmte 2005 einen weißen Volga auf nebeliger Wiese, in den sich nach und nach ein Dutzend sich langsam nähernder Menschen quetscht, bis der überladene Wagen prustend abfährt.

 Standbild aus Aslan Goisums Video „Volga“.
 Standbild aus Aslan Goisums Video „Volga“.
© Aslan Goisum

Geflüchtete gab es zu allen Zeiten, das macht die Ausstellung deutlich. 1968, im Gründungsjahr des Steirischen Herbstes, strömten Geflüchtete aus der Tschechoslowakei nach Österreich. Schwarzweiß-Fotografien von Bettenlagern in Turnhallen erinnern daran. Wie sich die Bilder gleichen. Das Donnergrollen des Kalten Krieges erreichte in dem Jahr auch Graz, das mit seinem neuen Festival gerade die freie Kunst feierte – auch als Antwort auf die braune Vergangenheit der Stadt, die voller Enthusiasmus den Anschluss Österreichs begrüßte.

Wie viel faschistisches Gedankengut mag trotzdem bei den Anfängen des Steirischen Herbstes noch virulent gewesen sein, fragte sich Kuratorin Degot ähnlich wie die Historiker:innen, die zuletzt den Gründungsmythos der Documenta entzauberten. Hinter der Moderne-Begeisterung steckte nicht zuletzt Kompensation, wie herauskam. Die gloriose Frühgeschichte der Documenta lässt sich seitdem nicht mehr so tadellos erzählen.

Schmerz wird gezeigt – aber indirekt

In Graz liefert die Ausstellung allerdings keine Belege für einen ähnlichen Verdacht, sondern begnügt sich mit einem Raunen: In einem alten Schrank als Ausweis der Heimattümelei ist ein Band des Mundartdichters Hans Kloepfer ausgestellt. Aufgeschlagen ist die Seite mit dem Gedicht „Steirischer Herbst 1916“.

Darin grollt und rollt es nur so dunkel vom Isonzo her als Anspielung auf die berühmte Isonzo-Schlacht. Es muss Spekulation bleiben, ob das Grazer Festivals seinen Titel tatsächlich durch dieses Gedicht erhielt, das mit verharmlosenden Naturbildern eine der verlustreichsten Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs beschreibt.

Harun Farocki, dem eine kleine Werkschau zum Thema Krieg im Forum Stadtpark gewidmet ist (bis 16.10.), greift da zu ganz anderen Mitteln und nennt als Pazifist die Dinge beim Namen. 1969, noch als Filmstudent, versucht er in dem 25-Minüter „Nicht löschbares Feuer“ eine Ahnung des Schmerzes zu vermitteln, den die Napalmbombe über die Menschen brachte, indem er sich eine Zigarette auf dem Unterarm ausdrückt.

Das wahre Ausmaß der Verletzungen sei nicht zeigbar, das Publikum würde mit Ablehnung reagieren, war der Filmemacher überzeugt. Auch Farocki arbeitet also mit indirekten Bildern. Er setzt sie ein als Waffen der Kunst.

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