Jagd auf die Jägerin
Das Foto ist nicht sorgsam inszeniert, bloß ein Schnappschuss, nachts mit Blitz aufgenommen. Im Vordergrund steht eine junge blonde Frau, sie hält mit ausgestrecktem Arm einen Jagdbogen. Aber sie posiert nicht, lächelt nicht wie die anderen, die sich mit ihren Trophäen stolz im Netz zeigen. Ihr Blick ist hart, man ahnt die Lust am Töten, die sie antrieb. Hinter ihr erstreckt sich eine afrikanische Savannenlandschaft, vor ihr liegt ein riesiger Löwenkadaver. Ein Männchen mit schwarzer Mähne, ausgestreckt im Gras. An seinem Halsansatz klafft eine rote Wunde, das Fell ist blutig.
Das Bild mit der Jagdtouristin steht am Anfang von Colin Niels Ökothriller „Unter Raubtieren“, mit ihm kommt eine unheilvolle Treibjagd in Gang. Ein Mitglied der Socialmedia-Gruppe #BanTrophyHunting entdeckt es, es wird massenhaft geteilt und entfesselt einen Shistorm. „Menschlicher Abfall“, empören sich Kommentatoren. „Nur Abschaum kann sich über so ein Massaker noch freuen.“
Martin, der als Nationalparkranger im südfranzösischen, zu den Pyrenäen gehörenden Aspe-Tal arbeitet, erkennt auf dem Foto einen Mord in flagranti. Mörder müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Allerdings ist die Identität der Jägerin unbekannt. Sie trägt ein Goldkettchen mit einer ovalen Medaille. Martin kann darauf ein paar Buchstaben entziffern: PSSM. Sie gehören zu einer Klostergemeinschaft, die in Pau ein Gymnasium betreibt, einem Pyrenäen-Städtchen ganz in seiner Nähe.
„Beute ausmachen“ – „Anpirschen“ – „Nachstellung“ – „Erlegen“ – Ritual“. Niel hat seinen Roman in fünf Kapitel geteilt, die dem Ablauf einer Jagd folgen. Die Beute belauern, ohne dass sie etwas von der Gefahr ahnt – das ist die Kunst. Martin kann das, auch wenn er übermotiviert zu sein scheint. Sein Engagement für die Tiere geht so weit, dass er sich dafür schämt, ein Mensch zu sein.
Weil der Homo sapiens, dieser Primat mit dem anomal großen Gehirn, verantwortlich ist für ein Massenaussterben von Arten. “Die Menschheitsgeschichte ist die Geschichte eines massiven Rückgangs der Fauna, ein endloser Fluss. (…) Zweihundert ausgestorbene Wirbeltierarten in nicht mal einem Jahrhundert, kein anderes Tier kann mit so einem Rekord aufwarten.” Martins Gedankenstrom ist eine wütende Predigt.
Der perfekte Schuss
Seine Kontrahentin, das erfährt er schnell, heißt Apolline. Die Tochter eines Vermögensberaters hat schon als Kind einen Jagdbogen geschenkt bekommen und beherrscht den perfekten Schuss. Ihre Atmung ist tief und gleichmäßig, sie zittert nicht, wenn ihre Zughand 15 Pfund hält. Dann schießt sie den Pfeil mit 300 Feet per second, mehr als 300 Stundenkilometer.
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„Unter Raubtieren“ handelt von einem Duell. Erzählt wird aber nicht nur aus der Perspektive von Martin und Apolline, sondern auch von Komuti. Er gehört zu den Treibern, die der blonden Touristin bei der Jagd in Namibia helfen. Das Land leidet unter den Folgen des Klimawandelns, viele Ziegen und Kühe sind der jahrelangen Dürre zum Opfer gefallen. Andere holt sich der alte Löwe, den sie Charles nennen. Eigentlich sind Großkatzen geschützt, aber die Dorfbewohner verlangen von der Regierung, das „problem animal“ zum Abschuss freizugeben.
Einer der besten Krimis der letzten Jahre
Brillianterweise gibt es in der Geschichte noch eine weitere Sichtweise, die des Löwen selbst. Man spürt seine „Blutlust“, wenn er in einen Kraal voller ängstlich unruhiger Ziegen eindringt. Er ist der König seiner Welt, am Ende jagt er seine Jägerin, richtet sich kampfesungeduldig zu ganzer Größe auf, um sich auf sie zu stürzen. „Schon durchfuhr ihn der Schmerz. Die ganze Brust mit einem Schlag in Flammen.“
Neil Colin hat einen der besten Krimis der letzten Jahre geschrieben. Sein Thriller „Nur die Tiere“, Anfang 2021 in deutscher Ausgabe erschienen, spielte unter Schafzüchtern im französischen Zentralmassiv. Der Schauplatz des ebenfalls herausragenden Romans „Unter Raubtieren“ ist nun eine doppelte Abgeschiedenheit, in Frankreich und Namibia. Beruflich ist Martin auf der Suche nach Cannelito, dem letzten Bären mit ein bisschen Pyrenäenblut. Seine Mutter wurde erschossen, seitdem ist er verschollen. Anderthalb Jahren lang nicht die geringste Spur, „nicht ein Scheißhärchen an den Hunderten von Bäumen, die wir beobachten“. Cannelito soll leben, hofft der Umweltpolizist. Und Apolline sterben.