Wettlauf gegen die Zeit
Nach einer Stunde ist es so weit: Hitler taucht das erste Mal im Bild auf. Und mit ihm Ulrich Matthes. Eigentlich wollte er 17 Jahre nach seinem Auftritt als Joseph Goebbels in „Der Untergang“ nie wieder einen Nazi spielen. Für Christian Schwochows „München – Im Angesicht des Krieges“ änderte er seine Meinung. Wesentlichen Anteil daran hatte kein Geringerer als Jeremy Irons.
Der habe ihn bei einem Kaffee gefragt, ob er die Rolle nicht übernehmen wolle, wie Matthes gerade der „SZ“ erzählte. Irons spielt in dem Historienthriller Hitlers Kontrahenten Neville Chamberlain. Der britische Premier will 1938 die Deutschen davon abhalten, in die Tschechoslowakei einzumarschieren – was den Zweiten Weltkrieg auslösen könnte.
Chamberlain kommt schon bei Robert Harris, dem Autor der Romanvorlage, erstaunlich gut weg. Der Premierminister wird meist als Naivling porträtiert, der sich von Hitler an der Nase herumführen ließ (zuletzt in der Netflix-Serie „The Crown“, für die Schwochow zwei Episoden inszenierte). In „München“ bekommt Irons nun genug Spielraum, um die Beweggründe dieses entschiedenen Friedensverfechters nachvollziehbar zu machen. Er gibt der so ungeliebten Figur der britischen Geschichte, die vom Nachfolger Churchill in den Schatten gestellt wurde, Profil: vom alternden Staatsmann, der unter der Bürde seines Amtes zusammenzubrechen droht, bis zum Instinktpolitiker, der Hitler kostbare Zeit für seinen Eroberungsfeldzug raubt.
Matthes wiederum übt sich in Zurückhaltung, er erlaubt sich das rollende „R“, belässt es sonst aber bei einem stechenden Blick und Körperspannung. Gerade genug, um seiner Figur eine Aura der Unberechenbarkeit zu verleihen. Eigentlich hätte Martin Wuttke Hitler spielen sollen, zum zweiten Mal nach Tarantinos „Inglourious Basterds“. Er fiel kurz nach Drehbeginn aus; Matthes ist sicher Schwochows größter Coup.
Der Deutsche taugt nicht zur Identifikationsfigur
Der Regisseur hat sich mittlerweile als Fachmann für deutsches Geschichtskino etabliert. Seiner Literaturverfilmung „Deutschstunde” haftete zuweilen etwas Lehrbuchhaftes an. Diesmal sind er und Ben Power, der das Drehbuch geschrieben hat, um Zwischentöne bemüht. Nicht nur in der Zeichnung Chamberlains, auch im Hinblick auf Paul von Hartmann, eine der beiden Hauptfiguren des Films.
Paul (Jannis Niewöhner) ist Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Der deutsche Diplomat taugt nicht gerade zur Identifikationsfigur: Er verachtet Hitler, ist ansonsten aber überzeugter Nationalist. Darum hatte sein Studienfreund Hugh (George MacKay, bekannt aus „1917“) nach der gemeinsamen Zeit in Oxford auch den Kontakt abgebrochen. Paul schwadronierte irgendwann allzu glühend von einer strahlenden Zukunft Deutschlands. Mittlerweile ist er im Widerstand gegen Hitler. Warum genau, enthüllt Schwochow erst spät.
Der Regisseur verquickt das Historische mit dem Persönlichen. Da in vielen Szenen schlicht Männer mit mächtigen Schnauzern zu sehen sind, die mit Männern mit kleineren Schnauzern verhandeln, gewährt Schwochow den freundschaftlichen Verflechtungen der Hauptfiguren einigen Raum. Autor Harris, ein Spezialist für Thriller im historischen Setting, hat sich diesmal weitgehend an die Fakten gehalten – anders als in seinem Erfolgsroman „Vaterland“, in dem die Nazis den Krieg gewinnen.
Frauen spielen in „München“ nur Nebenrollen. Liv Lisa Fries als Oxford-Kommilitonin taucht lange Zeit nur in Rückblenden auf. Sandra Hüller als Pauls Sekretärin und heimliche Geliebte darf mit einem gestohlenen Dokument zumindest die Krimi-Handlung ins Rollen bringen; nach einer Dreiviertelstunde hat Schwochow alle Weichen gestellt. Paul erhält das Schriftstück, das Hitlers wahre Gebietsansprüche offenbart. In München will er es Hugh zuspielen, der mittlerweile zu Chamberlains Privatsekretär aufgestiegen ist. Ein streng geheimes Dokument, heimliche Treffen, durchwühlte Koffer, eine versteckte Pistole: altbewährte Zutaten für einen Spionage-Plot.
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Historienkino ohne Gegenwartsbezüge
Schwochow und sein Editor Jens Klüber arbeiten mit schnellen Schnitten. Frank Lamms schwankende Kamera bleibt nah an den Figuren, sie suggeriert eine Überforderung im diplomatischen Ränkespiel. Schön zu sehen ist das in einer zentralen Szene in einem Münchener Wirtshaus, dem ersten Treffen von Paul und Hugh. Die Hakenkreuz-Armbinden im Saal, der „Stürmer“ lesende Banknachbar – eine diffuse Bedrohung ist präsent. Am Ende der Szene wird diese konkret: Ein SS-Mann (August Diehl) am Tisch nebenan hat Verdacht geschöpft und beobachtet die Verschwörer. Schwochow versteht es, in solchen Momenten Spannung zu erzeugen.
(In sechs Berliner Kinos, ab dem 20. Januar auf Netflix)
Er begnügt sich damit, seine Geschichte schnörkellos zu inszenieren, ohne Implikationen für die Gegenwart herauszustellen. Eine visuelle Brücke, wie Dominik Graf mit seinen Stolpersteinen in „Fabian“, schlägt er nicht. Schwochow geht es nicht darum, Verbindungslinien in die Gegenwart aufzuzeigen, in der nationalistische Strömungen in Deutschland und Europa wieder an Zuspruch gewinnen. Davon handelt sein vorangegangener Film „Je suis Karl“, in dem Jannis Niewöhner den Verführer der europäischen Jugend spielte.
Diesmal bleibt er streng im historischen Rahmen. So gelingt ihm ein überzeugender Thriller, weil er sich die Zeit nimmt, den Möchtegern-Spionen eine menschliche Dimension zu verleihen. Man will, obwohl das Ende von „München – Im Angesicht des Krieges“ von Beginn an feststeht, wissen, ob Hugh und Paul inmitten der Ereignisse rund um die Münchener Konferenz mit heiler Haut davonkommen