Explosive Stille : Der Avangarde-Maler Lothar Quinte
Dreiecke – mit überproportional langen Schenkeln auf einer sehr schmalen Basis – bewegen sich gleich marschierenden Formationen aus zwei Richtungen aufeinander zu. Ihre Farbigkeit reiht sich vom schattenhaften Blau-Grau über Blau und Violett zu Zinnoberrot, das in der Mitte leuchtet und sich über die gesamte Strecke zu einer Geraden verbindet, verbündet vielleicht. Zu den Seiten wird sie von zwei hauchdünnen weißen Dreiecksformen umspielt, was Lothar Quintes 1967 entstandenen „Fächerkreis blau grün“ eine wunderbar subtile Dynamik verleiht.
Die horizontal und vertikal gespiegelten Farb- und Formreihungen, bei denen die Basis der Dreiecke immer schmaler wird und die Spitzen zunehmend spitzer, so dass sie an Pfeile erinnern, lässt der Maler wie zwei gegenläufige Aufstellungen aufeinander zustreben, geradezu mit Tempo aufeinander zuschießen. Bewegung bei gleichzeitiger Ruhe ist es, was Quintes Op-Art-Phase überhaupt auszeichnet.
Vom Informel und vom Expressiv-Gestischen kommend, gehörte Quinte, dessen 100. Geburtstag die Galerie Bermel von Luxburg mit einer retrospektiven Ausstellung feiert, in den 1950er- und 60er-Jahren zur Avantgarde, die sich mit der gegenstandsfreien Malerei provokativ gegen den bestehenden Kunstkanon, die tradierten Sehgewohnheiten und gegen die Vorläufergeneration absetzte. Nach den Erfahrungen von Krieg und NS-Terror fand der in Oberschlesien geborene Maler, der 2000 in seiner französischen Wahlheimat verstarb, in der Abstraktion und konsequenten Reduktion die schmerzlich vermisste Freiheit.
In den Siebzigern brachte ihn eine Schaffenskrise nach Indien
Eine Schaffenskrise führte ihn Mitte 1970er-Jahre auf eine Weltreise, auf der er Indien für sich entdeckte und ab 1980 sein Winteratelier in Goa aufschlug. In der wärmeren Jahreszeit lebte und arbeitete Quinte, der parallel zur Malerei von den Sechzigern bis kurz vor seinem Tod rund dreißig Kirchenfenster schuf und außerdem überdimensionale Wandteppiche und Wandbilder gestaltete, im Elsass.
Gruppiert nach Werkphasen, beginnt die Ausstellung bei den frühen geometrisch geprägten Acrylbildern, ganz im Zeichen von Farbe und Form. Eine sonnengelbe Fläche zur linken wird mit vertikalen Streifen von der gelbgrünen rechten Seite abgegrenzt und geöffnet. Auch im „Schlitzbild gelb gelb vertikal“ beginnen die Ton-in-Ton-Variationen mit einer Schattierung von Gelb, wechseln zu Orange und Braun und markieren den mittigen, weißen Schlitz mit einem roten Bogen, um anschließend zu komplementärem Grün zu gelangen, das in das Gelbgrün des großen Feldes mündet.
Vom Farbraum zum sinnlichen Denkraum
Anders als Lucio Fontana , der die Leinwand mit seinen Schnitten konkret in den Raum öffnete, brauchen Lothar Quintes Schlitzbilder keinen physischen Riss; ihm genügt der Durchbruch als imaginäre Komponente, als malerische Evokation, um in den Raum hervorzustoßen. Noch reduzierter und mit fast monochromen Nuancen kommt das mittelformatige „Schlitzbild rot rot“ von 1966 aus. Zwei rote Halbkreise auf einer roten Fläche, die Farbunterschiede so minimal, dass die Kreisformen nur seitlich im Streiflicht sichtbar werden. Den Schlitz bildet ein pinkfarbener Zwischenraum, der oben und unten von blauen Klammern gehalten und zu den Seiten hin von einer rotorangenen Vertikale betont wird.
Es ist diese Stille und es sind die höchst delikaten Farbabstufungen, die Quintes Bilder so faszinierend machen. Die optische Ruhe, die ihn von der kühl unterlegten Geometrie anderer Op-Art-Positionen abhebt und den Farbraum zum sinnlichen Denkraum werden lässt. Da wurde der Schritt zur Farbfeldmalerei nur logisch. Bei den Leinwandarbeiten macht die Ausstellung einen Sprung von den 60ern in die 1980er-Jahre. Auch hier folgte Quinte – bis in die Titelgebung – dem Bonmot Frank Stellas: „what you see is what you see“. Vertraute allein auf die Ausdruckskraft und die materiellen Werte der Farbe.
Durch „Transparenz weiß über farbigem Grau“ schimmert hauchzartes Rosa und an den Rändern verweisen kleinere Partien von gedämpftem Blau auf das Farbenspiel unter der irisierenden Oberfläche. In der Zweidimensionalität suggeriert das großformatige Gemälde Tiefe und den Eindruck eines Farbraumkörpers, der an die dreidimensionalen Kissen Gotthard Graubners denken lässt. Im Verzicht auf jegliche spezifische Form gelangt Quinte zu einer fast ätherischen Stofflichkeit, einem diaphanen Schleier, in dem die matt-pudrige Farbe zu atmen scheint.
In seiner Kunst herrscht eine explosive Stille
In zwei Beispielen aus den 1990er-Jahren hält wiederum eine reduzierte Formgebung Einzug. Über zwei Meter hoch erhebt sich die „Stele Margao IV“ auf der ungrundierten Leinwand, deren raue Strukturen partiell sichtbar bleiben. Das Schwarz der Stele wird aus dem Untergrund von dunkel leuchtendem Violett und Rot durchdrungen. Das Ausstellungskonzept steigert die dramatische Wirkung, indem der Raum in Dunkelheit getaucht ist. Eine identische Farbgebung herrscht auch in „Panjim II“ vor und doch ergibt sich hier aus der Dichte der Farben eine andere optische Atmosphäre. Die Titel verweisen auf die indischen Entstehungsorte und in beiden Acrylbildern glaubt man ein Rauschen wahrzunehmen, der Natur vielleicht oder den Stimmen einer Urwaldfauna.
In einem Interview betonte Quinte 1997 die „Implosion der Farbe“. Für die Betrachtenden hingegen kehrt sich die Bewegungsrichtung der Energie um, zu einer explosiven Stille. Arbeiten auf Papier aus vier Jahrzehnten und durch die stilistischen Wandlungen runden den retrospektiven Einblick und die verdiente Wiederentdeckung Lothar Quintes ab (Preise: 2500-60000 Euro), die ab Mitte Oktober von einer Schau im Samurai Museum ergänzt wird.