Ukraine-Filme beim Festival in Venedig: Bilder unter Beschuss
Filmemachen kann gefährlich sein. In der Türkei sitzt die Produzentin Cigdem Mater eine 18-jährige Haftstrafe ab, nicht wegen eines fertigen, sondern wegen eines lediglich geplanten Films. Zur Podiumsdiskussion „Filmmakers under attack“ auf dem 79. Filmfest Venedig schickte sie ein Grußwort aus ihrer Zelle. Jewgeni Afinejewski widmet seinen in Venedig uraufgeführten Dokumentarfilm„Freedom on Fire“ seinerseits allen Journalist:innen, Dokumentarist:innen und Fotograf:innen, die in den Krisenregionen der Welt ihr Leben riskieren. Unter seiner Regie haben 43 Kameraleute (er selbst ist einer davon) in kürzester Zeit Bilder von Putins Angriffskrieg zusammengetragen, aus Kiew, Charkiw, Mariupol und zahlreichen anderen ukrainischen Städten.
Unruhige, auch panische, hastig wechselnde Szenen: Menschen auf der Flucht, Verwundete, Trauernde, freiwillige Kämpfer, die TV-Reporterin Nataliia Nagorna, die seit 2014 für einheimische Medien berichtet, ein Künstler, der in Butscha Leichenteile von der Straße einsammelte – es sind Fragmente einer grausamen Gegenwart. Als seien die Bilder selber unter Beschuss geraten.
Der Krieg ist ein großer Gleichmacher. Die verwackelten Aufnahmen von bombardierten Wohnblocks und erschöpften, verzweifelten Menschen, ähneln einander, in welcher Stadt sie auch immer entstanden. Die Kinder, die seit Wochen in Bunkern und Kellern leben und kein Tageslicht gesehen haben, malen Ostereier-Bilder für die ukrainischen Soldaten.
Seht her, hier ist die Bombe eingeschlagen, und hier im Keller kochen wir Wasser mit Hilfe von Kerzen: Das Kino kann den Krieg bezeugen – und Festivals können die öffentliche Aufmerksamkeit wachhalten, betont Festivalchef Alberto Barbero am eigens anberaumten Ukraine-Tag auf dem Lido. Ein Video-Zusammenschnitt würdigt ein gutes Dutzend prominenter ukrainischer Filmschaffender, die den roten Teppich gegen das Schlachtfeld eingetauscht haben und jetzt mit der Waffe für ihr Land kämpfen. Auch Frauen sind dabei.
Während Yaroslav Melnyk, der ukrainische Botschafter in Italien, auf dem Podium darauf hinweist, dass Russland auch gegen die Kultur seines Lands Krieg führt, spricht Regisseur Afinejewski über die moralische Verpflichtung, die Wahrheit des Kriegsalltags zu zeigen. Die Ignoranz wie bei der Krim-Annexion 2014 dürfe sich nicht wiederholen, auch deshalb hatte er es eilig mit „Freedom on Fire“.
Solidarität und Glamour schließen einander nicht aus. Beim prominent besetzten Panel wird auf den QR-Code für Spendenüberweisungen hingewiesen, Catherine Deneuve hatte sich schon zu Festivalbeginn eine kleine ukrainische Flagge an ihre Bluse geheftet, Tilda Swinton erscheint mit gelb gefärbtem Kurzhaar auf dem Lido – so trägt sie die halbe Fahne auf dem Kopf. Und Moderator Volodymyr Ostapchuk, den man in der Ukraine genau wie Präsident Selenskyj als Comedian kennt, bedankt sich bei der Biennale für die Ausladung der Russen.
Afinejewski, der in „Winter on Fire“ von 2015 die Maidan-Proteste dokumentiert hatte, bedient sich in „Freedom on Fire“ erneut auch pathetischer Mittel, mit entsprechendem Soundtrack und eindrücklichen Gegenattacken zur russischen Propaganda. Der Zorn ist ein lautes Gefühl.
Aber es sind die flüchtigen, stillen Momente seines Films (bei dem Helen Mirren erneut den anfänglichen Off-Kommentar spricht), die man so schnell nicht wieder vergisst. Ein paar tapfere Tulpen zwischen den Ruinen zum Beispiel. Oder der kleine Junge, der mit seinen Freunden im Autowrack spielt und den Soldaten einen Dinosaurier und Sonnen-Laserwaffen zur Verstärkung wünscht. Fantasy als Überlebensmittel.
Das Kino kann die Gegenwart auch in der Geschichte verorten. Zu den drei ukrainischen Festivalbeitragen in diesem Jahr zählt auch Sergei Loznitsas „The Kiev Trial“. Bei der Arbeit an seinem 2021 herausgekommenen Dokumentarfilm über den Massenmord an den Juden in Babyn Yar stieß der ukrainische Regisseur auf ausführliche Filmdokumente des Gerichtsprozesses in Kiew, bei dem NS-Täter aus Kiew, Lwiw oder Melitopol 1946 auf der Anklagebank saßen. Obersturmbannführer, Feldgendarmen und Gefreite geben den Russen und Ukrainern beflissen und ohne sichtliche emotionale Regungen Auskunft über ihre Gräueltaten.
Sie haben Befehle ausgeführt, sagen sie. Sie kannten das Ausmaß der Judenmorde nicht, und sie sprechen darüber, dass sie kleine Kinder lebend in die Grube geworfen haben, um Munition zu sparen. Eine Babyn-Yar-Überlebende berichtet, wie sie unter Leichen lag und später aus der Grube herauskletterte. Das Unvorstellbare in nüchternen Worten, von Dolmetschern im Gerichtssaal übersetzt. Am Ende werden die zwölf Deutschen öffentlich gehängt, zigtausende Kiewer Bürger schauen zu.
Loznitsa sitzt am Donnerstag nicht mit auf dem Podium, seine ukrainischen Kollegen haben einen Bann über ihn verhängt, weil er sich schon bald nach Kriegsbeginn gegen die generelle Ächtung der Russen aussprach und Unterstützung auch für russische Dissidenten forderte. Die Einmütigkeit der Kulturwelt beim Blick auf den Ukraine-Krieg hat Risse, auch in Venedig.
Ist Gerechtigkeit möglich, Strafe, Sühne? Wer macht Putins Armee eines Tages den Prozess? Und wie weiterleben mit dem traumatischen Erbe? „Ljuksemburg, Ljuksemburg“ heißt der einzige Spielfilm aus der Ukraine auf der 79. Mostra d’Arte Cinematografica. Er sei pessimistisch, sagt der 30-jährige Regisseur Antonio Lukich am Lido. Gleichwohl hat er eine Tragikomödie gedreht, die nicht nur Bitterkeit ausstrahlt, sondern einen spröden Witz an den Tag legt.
Auf den ersten Blick hat der Plot nichts mit dem Krieg zu tun. Aber es geht um einen abwesenden Vater, und auch das ist ein Kriegsphänomen. Die Zwillingsbrüder Kolya und Vasya (Amil und Ramil Nasirov), der eine ein nichtsnutziger Drogendealer, der andere ein braver Polizist, erfahren, dass ihr Vater in Luxemburg im Sterben liegt. Sie haben ihn zuletzt als Kinder erlebt, wollen ihn noch einmal sehen. Kolya hält ihn für einen stinkreichen Gangsterboss, Vasya hat seine Zweifel: Dad ist vielleicht nur ein Loser.
Die Bandenkriege der 90er Jahre, der Ukraine-Krieg 2022, die Realitäten sind denkbar unterschiedlich, die Wahrnehmungen schieben sich dennoch übereinander. Der verschwundene, imaginierte, in der Erinnerung verherrlichte Vater: Was richten solche Abwesenheiten in der nächsten Generation an, in den Seelen der Kinder, ob die Väter nun Helden sind oder nicht?
An diesem Freitag steht als einer der letzten Wettbewerbsbeiträge „No Bears“ von Jafar Panahi auf dem Programm. Der iranische Filmemacher musste Mitte Juli seine schon früher verhängte sechsjährige Haftstrafe in einem Teheraner Gefängnis antreten. Als er sich bei den Behörden nach dem Befinden seiner bereits verhafteten Kollegen Mohammad Rasoulof und Mostafa Aleahmad erkundigte, wurde er abgeführt.
„For us to live is to create“, schreiben Panahi und Rasoulof nun in einem offenen Brief an das 79. Filmfest Venedig. Sie gehören zu den prominentesten Regisseuren ihres Landes, haben beide auf der Berlinale Goldene Bären gewonnen und trotzen mit ihren Werken der Zensur. Die Hoffnung, eines Tages wieder kreativ sein zu können, hält sie am Leben, teilen sie mit. Für die Gala-Vorstellung am Nachmittag ist ein Flashmob auf dem roten Teppich geplant.
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