Namen, Ortsnamen überhaupt
Es dauert keine zwei Seiten in diesem neuen Roman von Patrick Modiano, und schon hat der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2014 das ewige Motiv seines Schreibens benannt. Die Rede ist da von den „Erinnerungssplittern“, „die er so rasch wie möglich aufzuschreiben versuchte: Bilder aus einem Abschnitt seines Lebens, die er im Zeitraffer vorüberziehen sah, bevor sie endgültig ins Vergessen sanken.“
Dass dieses Bilder sich wiederholen und doch jedes Mal ein wenig anders aussehen, gehört zur Literatur von Modiano. So wie auch die Lektüre von jedem neuen Roman dieses französischen Schriftstellers etwas Vertrautes hat. Es ist eine Art Nachhausekommen, das trotzdem der Eingewöhnung bedarf und an das sich jedes Mals aufs Neue eine Bezauberung anschließt.
„Unterwegs nach Chevreuse“ ist Modiano dieses Mal. Oder viel mehr: Eines seiner schreibenden Alter egos macht sich dahin auf den Weg, nämlich Jean Bosmans, der zuletzt in dem 2013 erschienenen Roman „Der Horizont“ zum Einsatz kam. Chevreuse heißt eine Gemeinde, die rund 30 Kilometer südwestlich von Paris liegt und sich für Bosmans als „Fürstentum“ aus Wäldern, Teichen, Hainen und Parkanlagen darstellt.
Wichtiger ist, dass sich hier ein Haus befindet, in dem Bosmans als Kind einige Zeit zugebracht hat, mit dem sich für ihn also Kindheitserinnerungen verbinden. Diese wollte er vor langer Zeit schon einmal dem Vergessen entreißen und fixieren, als junger Mann und angehender Schriftsteller im Alter von 20, 25 Jahren.
“Ein Kommen und Gehen seltsamer Frauen”
Wie so oft ist Patrick Modiano auf drei Zeitebenen unterwegs. Bosmans erinnert sich in der Gegenwart daran, wie er fünfzig Jahre zuvor, ungefähr in den mittleren, späten sechziger Jahren, mit seiner Kindheit konfrontiert wird: in Form von Ortsnamen wie Chevreuse oder Auteuil; durch Menschen, die ihm in dieser Zeit begegnet sind; und eben durch jenes Haus in der Rue du Docteur-Kurzenne, in dem er eine Zeit lang gewohnt hat und das auch für einige zwielichtige Figuren wegen eines womöglich darin versteckten Diebesguts von Interesse ist.
Modiano-Lesern dürfte dieses Haus mit seiner Adresse bekannt vorkommen. In seinem offen autobiografischen Buch „Ein Stammbaum“ hat der 1945 in Boulogne-Billancourt geborene Schriftsteller erzählt, dass er hier mit seinem Bruder 1952 bei einer Freundin seiner Mutter untergebracht wurde, Suzanne Bouquerau. Die Mutter war derweil auf Theatertournee.
„Ein Kommen und Gehen seltsamer Frauen“ sei das in dem Haus gewesen, heißt es in „Ein Stammbaum“. Dazu gehörte auch eine gewisse Rose-Marie Krawell, „Inhaberin eines Hotels in der Rue de Vieux-Colombier, die einen amerikanischen Wagen fuhr.“ – und die nun in dem neuen Roman ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle spielt.
Und in seinem lange vor dieser Autobiografie erschienenen Roman „Straferlass“, einem von Modianos schönsten, einem voller Kindheitseindrücke, ist das Haus gar der zentrale Schauplatz, mit einem „in Terrassen angelegten Garten“ dahinter, gelegen allerdings in einer Straße, die Rue du Docteur-Dordaine heißt.
Die Namen sind hier die Motoren der Erinnerung
Hier werden der „Straferlass“-Erzähler, da ist er zehn Jahre alt, und sein jüngerer Bruder von mehreren Frauen ein Jahr lang betreut; hier gehen aber auch ein paar Männer ein und aus. Darunter ein Roger Vincent, der nun mit einem anderen Vornamen, nämlich Guy, in „Unterwegs nach Chevreuse“ wieder auftaucht, obwohl nur auf Fotos und mit seinem Namen. Einmal soll er zu Bosmans gesagt haben, nachdem dieser ihm einen an Roger Vincent adressierten Brief überreicht hatte: „Weißt du, von Zeit zu Zeit ändere ich meinen Vornamen.“
Das Zusammenspiel von Vergessen und Erinnerung verdankt sich bei Patrick Modiano stets den Namen von Menschen und Orten. Der Zauber, der von ihnen ausgeht, ist dabei ein ganz anderer als jener bei Marcel Proust, dessen Erinnerungsfetischismus Modiano teilt.
Für Prousts Erzähler dienen Ortsnamen, Namen überhaupt dazu, das Verlangen nach bestimmten Orten oder Menschen zu wecken. Diese stellt er sich auf diese Weise noch schöner und grandioser vor, als sie sind, und er wird dann immer wieder mit der weniger schönen Wirklichkeit konfrontiert. Aber auch mit der ihre Arbeit ohne Mitleid verrichtenden Gewohnheit, wie etwa im Fall von Madame de Guermantes.
Bei Modiano dagegen sind die vielen Namen die Motoren der Erinnerung. Wenn diese sich partout nicht einstellen will, bleiben wenigstens die Namen als Überbleibsel. Beispielsweise gibt es in dem „Straferlass“–Roman eine Liste mit den Namen von 25 Autowerkstätten, die lange nicht mehr existieren.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Und wie heißt es nun in „Unterwegs nach Chevreuse“? „Auteuil. Der Name klang merkwürdig. Auteuil.“ Oder: „Chevreuse. Der Name würde vielleicht andere Namen anziehen wie ein Magnet.“ Oder, über Guy Vincent: „Vielleicht beeindruckte ihn bloß der einfache Klang dieses Namens.“
Mit den Namen beginnt alles, danach setzt die Erinnerung ein, und Bosmans bemüht sich um die Vergegenwärtigung der Vergangenheit. In dieser wiederum lauern dunkle Rätsel, da auch Straftäter das Leben des jungen Jean begleiteten.
Schon „Straferlass“ endet damit, dass die Polizei das Haus in der Rue du Docteur-DordMidaine durchsucht, nachdem bis auf die Kinder alle erwachsenen Bewohner ausgeflogen sind. In „Unterwegs nach Chevreuse“ ist es ein Zimmer, in dem in die Wände zusätzliche Verstecke eingezogen wurden.
Bosmans versucht, Zusammenhänge zwischen den vielen Figuren und ihren Namen herzustellen und seiner Geschichte gewahr zu werden. Am wichtigsten aber ist: Er schreibt und verwandelt all das zu einem Roman: „Er hatte ihnen ihre Leben gestohlen und sogar ihre Namen, und geben würde es sie nur noch in den Seiten dieses Buches“.
Modiano benennt seine Poetologie
Dabei ist es nicht immer leicht, der Geschichte dieses Romans, die kaum als solche bezeichnet werden kann, zu folgen. Modiano wechselt oft unmerklich die Zeitebenen, und primär handelt es sich hier um Erinnerungsbruchstücke.
Offen wie lange nicht benennt Modiano in „Unterwegs nach Chevreuse“ seine Poetologie. Die Suche nach der verlorenen Kindheit, der verlorenen Zeit ist das oberste Motiv seiner Literatur, und über allem steht die Verwandlung in einen Roman. Umso dankbarer zeigt der Erzähler sich, dass ihm über die Jahre immer wieder neue Einzelheiten über „einige seiner Romanfiguren“, über Camille Lucas, Martine Hayward, Guy (oder eben: Roger) Vincent und Rose-Marie Krawell zugetragen werden: „Was bewies, es gab zwischen dem wirklichen Leben und der Fiktion verschwimmende Grenzen.“
Das gilt im Grunde für das gesamte Werk dieses Schriftstellers. Immer wieder schöpft Patrick Modiano aus dem eigenen Leben, versucht er die eigenen Erinnerungslücken zu füllen. Dass „Unterwegs nach Chevreuse“ mit einem Traum endet, ist schließlich nur konsequent: Einige Geheimnisse dieses passagenweise gar nicht mal so zugänglichen Romans bleiben offen.