Weltrettung durch die Poesie
Avignon am französischen Nationalfeiertag: Es regnet Asche und Ruß. Die Rauchwolke eines Waldbrandes südlich der Festivalstadt legt einen orange-braunen Schleier vor die heiße Nachmittagssonne, die nun aussieht wie ein kranker Planet. Die Leute fotografieren, klopfen sich nach Freiluftaufführungen die Asche von Kleidung und Haaren und schauen von nun an anders auf Theater, Tanz, Performance.
Die schönste des Programms war die sprachfreie Installation „Anima“ der ersten Festivaltage, deren Botschaft sich als nun prophetisch erwiesen hatte: Ein Urwaldtriptychon aus Videoprojektionen, deren Bilder in Brand geraten, verkohlen und verschwinden. Nicht der Amazonas brennt da, sondern unser Bild der Welt.
Avignon inspiriert und begeistert auch in schwächeren Jahren
Solche schönen Doppelbödigkeiten waren Mangelware, denn die Programmvorlieben unter Olivier Pys Leitung zielten auch in dem letzten von ihnen verantworteten Festivaljahr auf textlastige Welterkundungen in klaren Feind-Freund-Schemata. Da ist erst einmal die digitale Technologie, die den Menschen daran hindert, zu sich selbst und seinem Lebensglück zu finden. Davon zeugten die Performances „Una Imagen Interior“ und das belgische Gastspiel „Flesh“.
Das war Kulturpessimismus und Zivilisationskritik der einfachsten Sorte. Oder es sind die Institutionen Staat und Kirche, die in Olivier Pys zehnstündigem Abschiedsspektakel „Ma Jeunesse Exaltée“ von einem zeitgenössischen Arlequin aufgemischt werden. Avignons scheidender Festivaldirektor glaubt ganz fest an Weltrettungen durch die Poeten, Gaukler und Theatermenschen.
Avignon sei eine Versammlung des Geistes und all der Menschen, die über die Welt anders nachdenken. Das sagte der Festivalchef am Anfang und am Ende. Das war aber nun immer schon Markenkern einer Kulturschau, die sich als die führende Reparaturwerkstatt für müde Demokratien hält. Zurecht, denn Avignon inspiriert und begeistert auch in schwächeren Jahren.
Freuen durfte man sich nach einem vielversprechenden Start und einer schwachen zweiten Festivalwoche am Ende immerhin über ein freches, makabres Untotenspektakel, das Patrick Kermann im grasbewachsenen Innenhof der Kartäuserklosters auf der anderen Rhoneseite eingerichtet hat.
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Da liegen lauter Leichen in offenen, spärlich beleuchteten Kästen und grummeln kleine Erinnerungen vor sich hin. Das Publikum lauscht hier und da, verweilt für Momente auf kleinen tragbaren Campinghockerchen und erkundet das finstere Totenreich als Wanderer zwischen den Erinnerungswelten. “La Mastication des Morts” führt vom Anekdotischen und Individuellen dieses Dorffriedhofs in die kollektive Erinnerung und in die finsteren Passagen des 20. Jahrhunderts.
Da es diese Verfinsterungen sind, die das gegenwärtige Europa nun wieder heimsuchen, hat sich der scheidende Festivaldirektor Olivier Py am letzten Tag mit einem sehr passenden Endbild verabschiedet: An der Seite der beninischen Sängerin und vor allem der Dakh Daughters aus Kiew, die seit März im französisch Exil Arbeitsmöglichkeiten gefunden und erst vor kurzem in Paris einen „Danse Macabre“ vorgestellt hatten. „Zusammen müssen wir siegen“, verkündet eine Schrift auf der ukrainischen Fahne, bei Standing Ovations nach der furiosen Aufführung von „Miss Knife et ses Sœurs“.
Olivier Py, der offen schwule Katholik und Poet, hatte die Travestieshow als „Miss Knife“ im üppigen Fummel und einigen Chansons aus eigener Fertigung begonnen: Bittersüßer Lebensschmerz mit erstaunlich ausgebildeter Stimme, Liebesleid und natürlich: Glanz und Elend des Künstlerlebens. Zusammen mit Angélique Kidjo schmetterte er dann das „Hallelujah“ von Leonard Cohen in den Saal.
Regelrechte Stürme der Begeisterung löste allerdings die bizarr-kabarettistische Performance der Kiewer Dakh Daughters aus. „Warum all das Elend?“ fragt das Freak-Kabarett mit klangmächtiger Unterstützung durch das Orchestre National Avignon-Provence.
Die Show „Miss Knife et ses Sœurs“ bringt zum Abschluss des Festivals noch einmal einige Elemente zusammen, die zum Markenkern der Theaterschau unter Olivier Py gehörten: Ein queerer künstlerischer Leiter mit dem Hang zu einfachen politischen Botschaften und dem festen Glauben an die Weltverbesserung durch Poeten und Künstler.
Unter Pys Leitung trug das Festival restaurative Züge
Während der neunjährigen Amtszeit des egozentrischen Multitalents Olivier Py war dies der Leitgedanke. Die postdramatischen, dokumentartheatralen und performativen Formate, die seine Vorgänger Vincent Baudriller und Hortense Archambault in die Sommertheaterschau eingebracht hatten, wichen unter Olivier Pys Leitung dem klassischen Schauspielertheater. An die Stelle der Videoscreens, der Installationen und Immersionen traten wieder die knarzige Podestbühne, demonstratives Spiel und eine poetische Blauäugigkeit. Die Sprache wurde wieder unumstrittenes Leitmedium der theatralen Erfahrung.
Der Gründungsimpuls des Festival in Avignon war im Jahre 1947 die Überwindung der durch den europäischen Faschismus korrumpierten Nationalseele durch Theaterkunst. Heute versteht sich das Festival immerhin noch als die europäische Reparaturwerkstatt für Demokratiedefekte. Keiner hat diesen Avignon-Mythos diskursiv besser vermarktet als Olivier Py. Aber er hat es sich und dem Publikum zu leicht gemacht. Als Kritikinstanz für zivilisationsgeschichtliche Irrwege hat Avignon in den letzten Jahren deutlich abgebaut.
Pys Weltenrettung durch Poesie ist eine naive Formel, holte aber Teile des Publikums da ab, wo es vor Jahrzehnten stehen geblieben war: In der wehmütigen Erinnerung an den Mythos Jean Vilar, der das Festival gegründet hatte. Trotz allen von Programmkuratorin Agnès Troly eingebrachten Impulsen, trug Avignon unter Pys Leitung inhaltlich und ästhetisch restaurative Züge. Andererseits hat er ein Festival, das drohte zur einfachen Abspielstätte internationaler Co-Produktionen zu werden, wieder stärker in Avignon verankert.
Der neue Leiter Tiago Rodrigues kommt aus Portugal und war in diesem Jahr nur als Dramatiker präsent. Aber seine Iphigenie-Bearbeitung hatte genau jene kluge Komplexität, die Avignon braucht, um ein simples Denkschema zu überwinden: Die Ordnungsmacht Literatur und ihre Poeten und Dramatiker sind nicht per se eine Rettungsinsel für die von Plagen, Krisen und Kriegen zerrüttete Menschheit. Es gibt keine heile Kunst in einer kaputten Welt.