Die Klagegesänge der Samstagsmütter

Krachend schlägt ein Sarg auf dem Pflaster auf – geworfen aus zwölf Metern Höhe von wütenden Demonstranten, die gegen eine Kunstausstellung in der türkischen Kurdenstadt Diyarbakır protestieren. Der Sarg bricht auf und ist zum Glück leer; er stammt aus einer Installation von 34 bunt gestrichenen Särgen, die an einen Angriff der türkischen Armee auf kurdische Zivilisten vor zehn Jahren gemahnen soll.

„Erinnerungsraum“ heißt die Ausstellung des kurdischen Künstlers Ahmet Güneştekin  in einem Festungsturm der Stadtmauer von Diyarbakır: Mit seinen plakativen Werken will Güneştekin hier zur Vergangenheitsbewältigung in der Kurdenregion der Türkei beitragen. Wie schwer sein Vorhaben ist, zeigte sich schon zum Auftakt der Ausstellung an einer Protestaktion.

Schon bei der Vernissage gab es einen Eklat

Doch eines hat der Künstler bereits bewirkt: Seine Ausstellung hat eine heftige Diskussion in der Türkei ausgelöst, wo über die Kurden sonst nicht mehr geredet wird.

Das sei keine Kunstausstellung, schrie eine Wortführerin der Demonstrierenden, das sei Verrat am kurdischen Volk und seinen Werten. Mit den bunten Särgen würden die Opfer der staatlichen Gewalt gegen Kurden verhöhnt. „Wach auf, Diyarbakır, und verteidige deine Geschichte“, skandierten die Demonstranten, bevor sie abzogen. Die Aktivistinnen und Aktivisten stammten aus dem Umfeld der kurdischen Terrororganisation PKK, doch auch von anderen Seiten kam Kritik an der Ausstellung. Schon bei der Vernissage gab es einen Eklat, als Promis aus Istanbul strahlend vor Werken posierten, die Leid und Unterdrückung der Kurden symbolisieren.

„Ich wusste, dass es Ärger geben würde“, sagt Ahmet Güneştekin im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Deshalb habe er seine Exponate bis zur Eröffnung geheim gehalten. „Ich habe alle Werke bis zum letzten Moment abgedeckt und niemanden in die Ausstellungsräume gelassen, denn die Spannung in der Stadt war spürbar.“ Vom Ausmaß der Anfeindungen ist der Künstler dennoch erschüttert: Mit Kritik habe er gerechnet, aber nicht mit einem tätlichen Angriff auf die Kunst.

Was ihn vor allem schmerze, sei die Tatsache, dass niemand im Land gegen den Angriff protestiert und die Freiheit der Kunst verteidigt habe – kein Verband, keine prominenten Künstler und schon gar nicht das Kulturministerium. „Wenn anderswo die Kunst angegriffen wird, gibt es einen Aufschrei – hier nicht“, sagt er.

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Güneştekin thematisiert in der Ausstellung die blutgetränkte Geschichte und Gegenwart von Südostanatolien. Eine Installation besteht aus bunten Straßenschildern mit den Namen all der Menschen, die seit den neunziger Jahren in türkischer Haft verschwanden und nie wieder gesehen wurden: Die Straßen und Plätze einer ganzen Stadt könnte man nach ihnen benennen. Eine andere Installation ist den Samstagsmüttern gewidmet, denen vor drei Jahren verboten wurde, öffentlich Aufklärung über das Schicksal ihrer verschleppten Kinder zu fordern.

International ist Güneştekin seit Jahren erfolgreich

Ein weiteres Werk simuliert das Innere des berüchtigten Gefängnisses von Diyarbakır, das der Künstler aus eigener Erfahrung kennt. In einer Video-Installation sind Klagegesänge der Volksgruppen zu hören, die in Anatolien massakriert wurden, jeweils kombiniert mit den Daten der Massaker – vom Genozid an den Armeniern bis in die Gegenwart.

Damit verfolge er kein politisches Ziel, betont Güneştekin, der im kurdischen Batman unweit von Diyarbakır geboren und von einer armenischen Stiefgroßmutter aufgezogen wurde. Als Künstler sehe er sich aber in der Pflicht, Zeugnis abzulegen über seine Zeit für künftige Generationen. „Kunst ist zugleich auch immer ein Dokument der Zeitgeschichte, und deshalb haben Künstler eine Verantwortung“, sagt er. „Ich will mit dieser Ausstellung keine Botschaft senden; ich will nur das, was wir in unserer Zeit erleben, mit den Mitteln der Kunst an künftige Generationen weitergeben.“

International ist Güneştekin seit Jahren erfolgreich: Auf der ganzen Welt hat er schon ausgestellt, von Venedig bis New York; seine großformatigen und farbenfrohen Werke sind bei internationalen Sammlern gefragt. Doch diese Ausstellung musste nach Diyarbakır, sagt er, denn die Kurdenstadt in Südostanatolien sei das Zentrum dieser Erinnerungen.

Seit die Schau eröffnete, hagelt es Kritik von allen Seiten – vom nationalistischen Innenminister der Türkei, der dem Künstler terroristische Sympathien vorwarf, von kemalistischen Kolumnisten, von kurdischen Extremisten. In türkischen Feuilletons wird Güneştekin vorgeworfen, er kommerzialisiere mit seiner Kunst das Leiden der Kurden. Die meisten Kurden von Diyarbakır scheint das nicht zu stören – sie stehen täglich zu Tausenden an, um die Ausstellung zu sehen.

Die Kritiker dagegen hätten die Schau meist gar nicht gesehen und vor allem nicht verstanden, sagt Güneştekin, der sich dadurch bestätigt fühlt. „Wenn Nationalisten und Kemalisten und Extremisten die Ausstellung angreifen und zugleich tausende Menschen aus dem Volk sich drängen, um sie zu sehen, dann zeigt mir das, dass ich recht getan habe“, ergänzt er und ist überzeugt: „Ich habe als Künstler zur Vergangenheitsbewältigung in meinem Land beigetragen.“