Gegen das Vergessen: Private Initiative hält Gedenken an ehemaliges NS-Lager aufrecht
Die Geschichte beginnt mit einem Pausenbrot. Der 16 Jahre alte Zimmermannslehrling Gerhard Eisenächer gab es 1944 dem vier Jahre älteren Robert Lançon, der als KZ-Häftling in derselben Tischlerei beschäftigt war. „Sie haben sich gleich gut leiden können. Verstehen konnten sie sich zwar nicht, mein Vater konnte kein Französisch, Robert Lançon kein Deutsch, aber da war von Beginn an Sympathie“, sagt Gerhard Eisenächers Tochter Evelyn Schurzmann.
Ihr Vater habe fortan täglich von seinem Essen abgegeben. „Seine Mutter wiederum hat sich gewundert, warum er so viel Essen mitnehmen wollte. Er hat dann offen darüber gesprochen, und die Mutter hat daraufhin noch mehr Brote gemacht“, erzählt Schurzmann, während sie durch ein mit zartem Schneeflaum bedecktes Waldstück führt.
Hier befand sich von Mai 1944 bis April 1945 das KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte. Es gehörte zum Lagerkomplex von Mittelbau-Dora. Häftlinge wurden eingesetzt, um in den Stollen Munitions- und Waffenfabriken einzurichten. Andere arbeiteten in Firmen und auf Bauernhöfen im Umland, wie auch Lançon, der in der Tischlerei Ellrich beschäftigt war.
Tag für Tag konnten die Einwohner die Kolonnen der ausgemergelten Gestalten in den Häftlingsuniformen durch die Straßen laufen sehen. Etwa 8.000 Männer waren zeitgleich im Lager: Ukrainer und Russen, Polen, Franzosen und Belgier, auch einige ungarische Juden, die aus Auschwitz hierher transportiert worden waren. Mehr als 4.000 von ihnen kamen ums Leben. Die Todesrate war selbst für das NS-Lagersystem sehr hoch.
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Jetzt hat sich der Wald das ehemalige Lagergelände zurückerobert. Bäume und Büsche haben sich im Mauerwerk der einstigen Gipsfabriken festgesetzt, in denen ein Teil der Häftlinge untergebracht war. Die Ziegelsteinwände von Block 4 sieht man noch zwischen Bäumen aufragen. Eine Informationstafel weist auf ein Unglück hin: eine frisch eingezogene Wand, die die Räume teilen sollte, stürzte plötzlich zusammen und begrub zahlreiche Häftlinge unter sich.
Evelyn Schurzmann zeigt den Weg, der an den Fundamenten früherer Baracken vorbeiführt, zum ehemaligen Krematorium. Dabei verlässt man Thüringen und erreicht Niedersachsen. Die innerdeutsche Grenze verlief mitten durch das frühere KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte. Auf ostdeutscher Seite wurden die Gebäude niedergerissen, damit die Grenzsoldaten freies Sicht- und Schussfeld hatten. Das Krematorium auf niedersächsischer Seite wurde in den Jahren unmittelbar nach dem Mauerbau nach einem Besuch des damaligen Ministers für innerdeutsche Fragen, Rainer Barzel, vom Bundesgrenzschutz abgerissen. Barzel wollte den „Schandfleck“ beseitigt sehen, schrieb damals die Lokalpresse.
Erst kurz nach dem Mauerfall wurde auf Initiative von Einwohnern der nahe gelegenen niedersächsischen Gemeinde Walkenried ein Gedenkstein gesetzt. Inge und Gerhard Eisenächer machten es sich zur Aufgabe, den Gedenkstein zu pflegen und auch den Weg durch den Wald sauber zu halten.
Eine Freundschaft fürs Leben
Robert Lançon und Gerhard Eisenächer, die ungleichen Arbeitskollegen in der Tischlerei, verloren sich nach Kriegsende aus den Augen. Erst Jahre später trafen sie sich wieder. Aus den Erzählungen ihres Vaters rekonstruiert Evelyn Schurzmann diese Begegnung: „Es war in den 1950er Jahren. Lançon kam mit einer Häftlingsdelegation in die Gedenkstätte Mittelbau-Dora, mein Vater war dort als Polizist beschäftigt. Sie haben sich gleich wiedererkannt und sich in die Arme geschlossen.“ Lançon lernte daraufhin Deutsch. Eine Freundschaft entstand.
In den Jahren nach dem Mauerfall kam Lançon oft nach Ellrich, und er lud die Eisenächers nach Frankreich ein. Evelyn Schurzmann erinnert sich, dass Lançon oft zu ihrem Vater sagte: „Ich könnte zehn Brüder haben, aber du bist der beste.“ Lançon starb 1998 im Alter von 74 Jahren. Er hatte noch einen Wunsch: Ein Teil seiner Asche sollte im Lager Ellrich verstreut werden. „Er wollte bei seinen toten Kameraden sein.“
Inge Eisenächer gibt ein Versprechen
Die Eisenächers erfüllten den letzten Wunsch ihres Freundes. Den Gedenkstein und den Weg dorthin pflegten sie mit Hingabe. Nach dem Tod von Gerd Eisenächer 2007 führte die Witwe die Arbeiten allein weiter. Dafür war sie im Ort und auch im Nachbarort Walkenried, auf der anderen Seite der ehemaligen Grenze, bekannt. Manche Walkenriederer bedankten sich persönlich für die Putzeinsätze, legten ein bisschen Geld hinter den Gedenkstein, schrieben „Danke“ dazu.
Oft genug machte sich Evelyn Schurzmann um ihre Mutter aber auch Sorgen, wenn sie allein in den Wald ging. „Einmal kamen Jugendliche und haben sie gefragt: ‚Was machen Sie denn da?‘ ‚Na ja, ihr seht doch, dass ich hier fege‘, anwortete meine Mutter. Und die Jugendlichen darauf: ‚Dann seien Sie aber froh, dass Sie nicht selber da liegen.‘ Sie fügten noch Sprüche hinzu wie: ‚Die könnten alle noch mal verrecken.‘“
Von Beschädigungen und Schmierereien weiß auch Andreas Heise zu berichten. Heise rief vor vier Jahren gemeinsam mit Evelyn Schurzmann die Initiative „Gegen das Vergessen – Wir zeigen Gesicht“ ins Leben. Damals konnte Schurzmanns 92 Jahre alte Mutter Weg und Gedenkstein aus Altersgründen nicht mehr pflegen. Heise und Schurzmann wollten aber nicht nur aufräumen. Gemeinsam mit anderen Bürgern wollten sie einen Ort schaffen, an dem Menschen, die im Lager Angehörige verloren haben, trauern und an ihre Toten denken können. Die Geschichte sollte nicht vergessen werden.
Verschiedene Mitglieder von „Gegen das Vergessen“ bieten Führungen über das Gelände an. Einmal wollten Polizisten eine Führung haben. Sie hatten zuvor eine Anzeige aufgenommen wegen neonazistischer Schmierereien an den Mauerresten. „Von dem Lager hatten die Beamten zuvor gar nichts gewusst“, erzählt Heise, der auch Schulklassen durch das ehemalige Lager führt.
Balance zwischen Gedenken und Naturschutz
Dass überhaupt Führungen auf dem über Jahrzehnte verwilderten Gelände stattfinden können, ist auch der Partnerschaft mit der Stiftung Naturschutz Thüringen zu verdanken. Sie ist für das Areal auf Thüringer Seite zuständig, für das Naturschutzgebiet, das entlang des alten Grenzverlaufs das Grüne Band bildet. Aus Naturschutzsicht geht es darum, Pflanzen und Tiere machen zu lassen und für sichere Wege durch die Wildnis zu sorgen. An diesem speziellen Ort kommt aber die Erinnerungskultur hinzu.
„Eine Herausforderung“, wie Mareike Schult, Gebietsbetreuerin für den Südharz, zu berichten weiß: „Das ist nicht ganz einfach, denn kein Ziel steht über dem anderen, Denkmalschutz und Naturschutz halten sich die Waage. Es wurde insofern eine Einigung getroffen, dass die Stellen, an denen Mauerreste erhalten sind oder wo Archäologen weiter graben wollen, frei gehalten werden. Alles ringsherum bleibt Natur.“ Einige Bäume, die die Mauerreste von Block 4 bedrohen, sind mit roter Farbe gekennzeichnet und werden demnächst gefällt. Auf dem ehemaligen Appellplatz wird regelmäßig der Rasen gemäht. Und die Fundamente des Krankenreviers sind ebenfalls weitgehend von Bewuchs befreit. Dafür sorgen auch gemeinsam organisierte Freiwilligeneinsätze.
DDR-Fluchtversuche im Wald
In den Gemeinden Ellrich und Walkenried und den benachbarten Orten war lange wenig über das Lager bekannt. „Früher wurde wenig darüber gesprochen außerhalb der Familie. Es war ja auch Sperrgebiet“, erklärt Schurzmann. Das Unbehagen mit dem Ort war in Ost und West gleichermaßen ausgeprägt.
Die Mauergeschichte ist ein weiterer Aspekt, den die Initiative „Gegen das Vergessen“ berührt. Mancher hat Freunde oder Angehörige, die an dieser Stelle die Flucht versuchten. Mareike Schult von der Stiftung Naturschutz hat den Original-LKW besorgt, mit dem eine Familie in den 1980er Jahren einen Durchbruch über die Gleise gleich hinter dem ehemaligen KZ versucht hatte. Erfolglos. Der LKW war zwar mit Metallplatten künstlich gepanzert. Schüsse in die Reifen brachten das Fahrzeug aber zum Stehen. Der LKW soll nun für eine ständige Ausstellung aufbereitet werden, wie auch der ehemalige Grenzturm, der noch steht.
Auch Jugendliche sind interessiert
Um an die Geschichte zu erinnern, wünscht sich Heise in Zukunft ein Haus als Bildungseinrichtung. Er beobachtet mehr und mehr Zuspruch in der Bevölkerung. Auch das Interesse von Jugendlichen und Schulen aus Niedersachsen nehme zu. Momentan wird ein Konzept für Führungen erarbeitet, sodass mehr interessierte Bürger sie durchführen können.
Auch Universitäten sind an der Aufarbeitung beteiligt. 2019 wurden zwei Massengräber mit Asche und verkohlten Leichenteilen von mutmaßlich über 1000 Opfern gefunden. Die Universität Osnabrück organisierte daraufhin gemeinsam mit der Stiftung Naturschutz eine Forschungsexkursion ins ehemalige KZ. Dabei wurden Bodenabschnitte geophysikalisch untersucht und bauliche Objekte mit 3D-Scans vermessen. Diese Art Grundlagenforschung soll fortgesetzt werden.
Sichtbarkeit herzustellen gehört zu den großen Herausforderungen von Graswurzel-Bewegungen wie „Gegen das Vergessen“. Ab kommendem Jahr sollen feste Termine für Führungen auf der Website der Stiftung Naturschutz bekannt gemacht werden. Die große Gedenkstätte Mittelbau – Dora bietet gelegentlich auch Führungen zur Außenstelle an. Ein weiterer Partner ist die Touristeninformation in Walkenried, die ihren Klosterweg bis zum Gedenkort verlängert hat. Der Geschichtsverein Walkenried unterstützt ebenso wie viele Bürger.
Der Gedenkort ist immerhin bereits mit sorgfältig gestalteten Hinweistafeln und zwei Gedenksteinen ausgestattet. Der zweite wurde 1994 von der belgischen Stadt Leuven gestiftet. Regelmäßig besuchen Delegationen den Ort, vor allem aus Ländern, aus denen die Opfer stammten. Als Erfolg wertet Heise, dass die Massengräber inzwischen offiziell als Kriegsgräberstätte anerkannt sind. Es gibt Pläne, ein Gedenkkonzept mit internationalen Häftlingsvereinigungen zu entwickeln.
Fehlt nur noch die Politik. Bei der letzten Landtagswahl erhielt die AfD in der Region 41 Prozent der Erststimmen und 34 Prozent der Zweitstimmen. Das Verhältnis zu den Vertretern der Partei wird als „eisig“ empfunden.