Wohin ich gehöre
Fragen über Fragen. Warst du jemals Teil einer kriminellen Organisation? Ist dein Herkunftsland sicher? Wovon träumst du? Und immer wieder: Wo bist du gerade? In Olivia Wenzels Roman „1000 Serpentinen Angst“ gerät die Erzählerin permanent in Erklärungsnot.
Irgendwo zwischen Flughafenverhör und Selbstbefragung wird ihr Verortung abverlangt. Nicht nur räumlich oder zeitlich, obschon sie sprunghaft zwischen Thüringen, Vietnam, Berlin, Marokko und den USA pendelt und dabei schon mal die Orientierung verlieren könnte. Sondern vor allem in Heimat- und Zugehörigkeitshinsicht. Schwarz, ostdeutsch, queer – das bietet reichlich Angriffsfläche für die Ausgrenzungswütigen.
Am Gorki Theater hat jetzt die Regisseurin Anta Helena Recke Wenzels Romans für die Bühne adaptiert. (Wieder am 29. 8. sowie am 25. und 26. 9.) Recke war ja bereits zwei Mal zum Berliner Theatertreffen eingeladen, einmal mit ihrer „Schwarzkopie“ der Münchner Inszenierung „Mittelreich“, in der sie das ursprünglich weiße Ensemble durch ein Schwarzes ersetzte.
Zum anderen mit der installativen Performance „Die Kränkungen in der Menschheit“, in der es um Bildbetrachtungen und Blickdominanz ging, um die Perspektive weißer Westler, die alle anderen Sichtweisen gern zur Seite drängt. Die Frage, was es bedeutet, sich als nicht-weiße Person permanent zu einer Umgebung verhalten zu müssen, die einen als fremd labelt, ist zentral in „1000 Serpentinen Angst“.
Ein Drei-Generationen-Porträt
Recke bespielt sie durchaus in ihrer Inszenierung, deren klug verdichtete Fassung zusammen mit Hieu Hoang entstanden ist. Vor allem aber verhandelt sie das Motiv von Entwurzelung und damit Bodenlosigkeit am Beispiel der Familiengeschichte, die Wenzel, gebürtige Weimarerin, in Schlaglichtern aufscheinen lässt.
Ihre Protagonistin kommt als Tochter eines angolanischen Vaters und einer deutschen Mutter in der ostdeutschen Provinz zur Welt. Mit dem Vater, der das Land verlassen musste, hat sie nur Kontakt über Facebook. Zwischen ihr und der Mutter stehen etliche ungeklärte Fragen – „Picture this: Meine Mutter: eine junge Frau mit blauen Haaren und Nietengürtel, eine Punkerin, gefesselt an die DDR“.
Die Großmutter wiederum musste den Traum vom Fliegen begraben, arrangierte sich aber mit dem System, nebst aller Vorteile: „Nylonstrumpfhosen und Jeans, Westschokolade und immer ein Bungalowplatz an der Ostsee“. Ein Drei-Generationen-Portrait voller blinder Flecken, sprich: nie verhandelter Erwartungen aneinander, nie benannter Erblasten.
Was Reckes Inszenierung durchzieht, ist ein Moll-temperiertes, Bloch’sches Heimatweh: der Ort, an dem noch niemand war, aber der allen in die Kindheit scheint. Eine Statisterie aus Kindern unterschiedlichen Alters, die vergnügt Anschleichen und Verstecken spielen, tanzen, oder im Chor die Freude über ihre Geburt aus Elternperspektive formulieren („We have loved you even before you were born“) tobt immer wieder über die Bühne – als Verkörperung der Figuren in früheren Jahren.
Blackness, auf Schmerz gewachsen
In anderen Szenen steht das Ensemble auf der weitgehend leeren Bühne unter einem Videohimmel, der an grobkörnige Ultraschallbilder erinnert (Bühne: Marta Dyachenko). Und schließlich endet Wenzels Erzählung mit der Schwangerschaft der Protagonistin, was aber kein Happy End bedeutet, sondern die ungeklärten Fragen eher fortschreibt.
Die Vielstimmigkeit von Wenzels Roman verteilt Recke auf ein Ensemble aus Gorki-Spieler:innen und Gäste. Shari Asha Crosson hat meist den Part der namenlosen Erzählerin, Hanh Mai Thi Tran gibt deren Freundin Kim, Moses Leo unter anderem ihren Bruder, Ariane Andereggen die Punk-Mutter, Falilou Seck den Vater, Abak Safaei-Rad ist als „Stimme“ präsent und Tim Freudensprung als weißer Typ (unter anderem im Gewand des Büffelmanns beim Kapitol-Sturm).
Ihre Sprache ist aufs sachliche Erzählen heruntergedimmt, sie bewegen sich mit ruhiger Präzision durch eine Inszenierung, die wiederum mehr Kunstinstallation als Einfühlungsangebot ist.
Recke, ihre Co-Regisseurin Joana Tischkau und Choreograf Jeremy Nedd setzen einen Zustand der Ortlosigkeit, des permanenten Transits und der schwer auszuhaltenden Gleichzeitigkeiten ins Bild – von Diskriminiertsein und Privilegiertsein etwa.
Einmal beschreibt die Erzählerin, wie frei sie sich in den USA unter Afroamerikaner:innen fühlt. Um dann zu erkennen: „Du kannst dankbar sein, dass du willkommener Gast in dieser Gemeinschaft bist, eine Touristin dieser auf Schmerz gewachsenen Blackness.“