Nacktturnen und surreale Welten

Minutenlang kriechen die nackten Performer:innen – fünf Frauen und ein Mann – auf allen Vieren über den Boden der St. Elisabeth Kirche. Eine Frauenstimme vom Band erklärt, der Heilungsprozess habe schon begonnen. Einlullend ist der Vortrag, mit dem das Publikum hier berieselt wird.

Wie eine Therapiesession beginnt Daina Ashbee erstes Gruppenstück „J’ai pleuré avec les chiens – Time, Reaction, Destruction“, das im Rahmen von „Tanz im August“ zu sehen war. Die Kanadierin mit niederländischen und indigenen Wurzeln hat sich mit schonungslosen Stücken einen Namen gemacht. Ihren Perfomer:innen hat sie diesmal besonders viel abverlangt.

Leistungsschau mit Yoga-Posen

Die besteigen sich gegenseitig, was nicht so leicht ist – bei den hochsommerlichen Temperaturen sind die Körper schweißnaß. Sie knurren und kläffen wie ein Rudel aggressiver Hunde. Man beginnt sich schon zu fragen, welchen therapeutischen Nutzen das exzessive Bellen hat. Doch offenkundig ist Daina Ashbee auf dem Yoga-Trip.

Und so spreizen und verbiegen sich die Kreaturen in anspruchsvollen Yoga-Posen und balancieren dabei auf dem Rücken ihrer Partner. Oder lassen sich auf den Füßen ihrer liegenden Gefährt:innen in die Höhe stemmen. Das mutet weniger wie ein Ritual an, sondern eher wie eine Leistungsschau. Mit einer Kreischorgie endet das Stück. Schrei alles raus scheint das Motto zu sein. Doch von einer kathartischen Erfahrung ist wenig zu spüren. Dem Publikum bleibt nur übrig, die Anatomien der Tänzer:innen bei schwindendem Tageslicht genau zu betrachten.

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Bodenlange Faltenröcke, Blusen und biedere Hauben – die neun Tänzerinnen der katalanischen Kompanie La Veronal sind anfangs züchtig verhüllt. Doch das Stück „Sonoma“ entfaltet eine viel größere Radikalität als das Nacktturnen von Daina Ashbee. Der Choreograf Marcos Morau wird international gefeiert als Schöpfer surrealistischer Bilderwelten; seine rätselhaften Bühnenstücke zeichnen sich durch eine ausschweifende Imagination aus. „Sonoma“ ist wieder von Luis Buñuel inspiriert.

Morau hat sich aber auch von den religiösen Riten und Prozessionen seiner Heimat anregen lassen. Die neun Tänzerinnen umringen zunächst ein großes auf dem Boden liegendes Holzkreuz und lösen langsam die Seile, die um die Balken gewickelt sind. Später spannen sie Seile und laufen im Kreis – sie muten an wie Schicksalsgöttinen, die den Lebensfaden spinnen.

Feier der Weiblichkeit

Die Seligpreisungen, die die Frauen anstimmen, basieren zuerst noch auf dem Evangelium, doch es wird ein allumfassendes Gebet daraus, das auch die vielen einschließt, die sonst vergessen wurden. Mit schwarzen Gewändern und verhülltem Gesicht muten die Tänzerinnen dann wie ein Schar Büßerinnen an. Doch die eingeschnürten Frauen beginnen sich gegen die patriarchalen Zwänge aufzulehnen.

Oona Dohertys Stück „Navy Blue“ wurde im Haus der Berliner Festspiele gezeigt.Foto: Sinje Hasheider

Marcos Morau hat eine Choreografie mit komplexen Bewegungsmustern entworfen. Zunächst sieht man abrupte Gesten, die etwas Widerspenstiges haben. Blitzschnelle Armbewegungen, abgespreizt und stachelig. Kippende Körper, die zusammensinken und wieder hochschnellen. Dann verschmelzen die neun zu einem vielgliedrigen Kollektivkörper und durchlaufen zahlreiche Verwandlungen.

Das ist ungemein plastisch choreografiert und präzise getanzt. Die großartige Musikcollage verbindet Frauenchöre aus aller Welt mit Pop und klassische Klängen. Zwei Gestalten mit überdimensionalen Greisinnenköpfen werden dann in eine Kiste gesperrt.

Ausgelassen wie Kinder tollen die Tänzerinnen in blütenweißen Kleidern über die Bühne, spielen mit Leuchtkugeln und katapultieren sich in einen Drehwirbel. Später defilieren sie mit opulenten Blumenkränzen über die Bühne – ein Weiblichkeitskult. „Sonoma“ ist ein überbordendes Stück, reich an Bewegungen, Bildern, Klängen und Gedanken. Die fabelhaften Tänzerinnen befreien ihren Körper und ihre Stimme und entfesselt eine furiose Energie.
Am Ende schlagen sie wütend auf ihre Trommeln und verkünden: „Wir sind die letzte Chance. Die Revolution.“ Tiefschwarz und traumhell – ein fulminantes Spektakel.