Deutschland unterliegt England in der Verlängerung
war bei der Europameisterschaft über die Mentalität des deutschen Teams geredet worden. Darüber, wie gut der Zusammenhalt sei in der Auswahl, wie sie auch in schwierigen Situationen immer wieder einen Weg finde. Im Finale im Wembley-Stadion, gegen Gastgeber England, wurde Deutschlands Mentalität der ultimativen Prüfung unterzogen.
Im denkbar ungünstigsten Moment ereilte Deutschland eine Hiobsbotschaft, nämlich kurz vor Anpfiff. Torjägerin und Symbolfigur Alexandra Popp hatte sich beim Warmmachen eine Muskelverletzung zugezogen und konnte nicht mitspielen. Und dann gerieten die Deutschen nach einer Stunde sogar in Rückstand. Die eingewechselte Ella Toone traf in der 62. Minute zum 1:0 für England. Mehr als 87.000 Zuschauerinnen und Zuschauer brachten Wembley wahrlich zum Beben. Es sah aus, als wäre die finale Prüfung des Turniers eine Prüfung, der das deutsche Team nicht mehr gewachsen war.
Doch die Auswahl von Trainerin Martina Voss-Tecklenburg kam zurück. Lina Magull erzwang in 79. Minute mit ihrem dritten Turniertreffer die Verlängerung. Dort ging Deutschland dann allerdings die Kraft aus. Ein zweites englisches Jokertor, diesmal durch Chloe Kelly in der 110. Minute, stellte den 1:2-Endstand aus Sicht des DFB-Teams her und machte England zum ersten Mal zum Europameister.
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Hinterher sangen die Zuschauer „Sweet Caroline!“, das Lied, das die englischen Männer bei der Europameisterschaft im vergangenen Jahr ins Endspiel getragen hatte. Dort hatten sie eine Niederlage gegen Italien kassiert. Es waren jetzt die Frauen, die der Nation bewiesen, dass England auch Titel gewinnen kann.
Deutschland verpasste den neunten EM-Triumph, kann die Heimreise aber erhobenen Hauptes antreten. „Wir haben alles an Leidenschaft, Energie und Schmerz auf dem Platz gelassen“, sagte Trainerin Voss-Tecklenburg. Das Team hat nach allgemeinem Empfinden überperformt bei dem Turnier. Oder, wie Alexandra Popp es am Abend vor dem Endspiel formuliert hatte: „Kein Schwein“ hätte die Deutschen im Endspiel erwartetet.
Popp darf sich die Torjägerkrone der EM mit der Engländerin Beth Mead teilen (jeweils sechs Tore), obwohl sie das Endspiel auf tragische Weise verpasst hatte. Ihre Verletzung beim Warmmachen war die letzte Volte ihres bemerkenswerten Turniers. Sie war nur wegen der Corona-Erkrankung von Lea Schüller nach dem ersten Vorrundenspiel in die deutsche Turnier-Elf gerückt und hatte Deutschland nach Wembley geschossen. Beim Finale unter dem blauen Himmel Londons spielte dann Schüller kurzfristig im deutschen Sturmzentrum und hatte ihren Anteil an einer ausgeglichenen Partie.
Deutschland und England waren die besten Teams des Turniers
Deutschland und England, die beiden besten Teams des Turniers, lieferten sich ein packendes, oft auch kampfbetontes Finale. Der Ballbesitz war gleichmäßig verteilt. Und auch in Sachen Großchancen lagen die Kontrahentinnen in etwa gleichauf. Die beste deutsche Gelegenheit für lange Zeit gab es in der 25. Minute, sie war das Ergebnis einer unübersichtlichen Situation. Nach einer Ecke rettete Kapitänin Leah Williamson auf der Linie, offenbar per Hand. Der VAR prüfte die Szene, konnte aber kein Vergehen feststellen – sehr zum Ärger von Voss-Tecklenburg. „Warum passiert sowas?“, fragte sie hinterher.
Kurz vor der Pause hatte England die bis dahin beste Gelegenheit. Rekordtorschützin Ellen White kam aus dem Rückraum zum Abschuss, ihr Schuss flog allerdings über das Tor. Eine deutsche Druckphase nach dem Wechsel überstand England unbeschadet. Und so waren es die Engländerinnen, die das erste Tor des Abends erzielten. Ein Traumpass von Keira Walsh übertölpelte die deutsche Abwehr, und Ella Toone überlupfte Deutschlands Torhüterin Merle Frohms. Der Jubel der englischen Fans dürfte bis an die Küste des Ärmelkanals hörbar gewesen sein. Doch die Deutschen zeigten ihre Mentalität, ein letztes Mal bei der Europameisterschaft.
Sie drückten in der Schlussphase der regulären Spielzeit auf den Ausgleich und wurden belohnt. Nach einer flachen Hereingabe der eingewechselten Tabea Waßmuth traf Lina Magull am kurzen Pfosten mit einem wuchtigen Schuss zum Ausgleich. Am Ende war es allerdings die Breite im Kader, die den Unterschied zugunsten der Engländerinnen machte. Nach einer Ecke in der 110. Minute traf die ebenfalls eingewechselte Chloe Kelly zum Sieg. Sie riss sich das Trikot vom Leib, die Bedeutung des Augenblicks war ihr sofort klar. Ihr Tor brachte Englands ersten EM-Titel.
Und die Deutschen? Sie mussten am Ende tapfer die englische Siegesfeier über sich ergehen zu lassen, das Silberkonfetti, das Feuerwerk. An der Mentalität lag es nicht, dass die DFB-Elf das Finale verloren hatte. Die Mentalität hatte sie überhaupt erst nach Wembley gebracht.