Unite, Unite, Europe
Die Inbrunst, mit der Gastgeber Pasquale Aleardi den Klassiker „Ein Lied kann eine Brücke sein“ anmoderiert, klingt wie eine verzweifelte Beschwörung. „Vergesst nicht, besonders wenn alles auseinanderzubrechen droht: Die Kraft der Musik verbindet uns. Grand Prix ist Europa und Europa ist Grand Prix!“ In diesem Jahr allerdings ohne Künstler aus Russland, die Freitag ausgeschlossen wurden.
Natürlich steht der Krieg gegen die Ukraine auch bei der Premiere von Aleardis Show „Mein Grand Prix“ im Raum. Vor dem Beginn tritt Marlene, die Begrüßungsdame des Tipi am Kanzleramt, auf die Bühne und sagt, dass das Ensemble diskutiert habe, ob es angebracht sei, derzeit eine fröhliche Musikshow aufzuführen. Das Ergebnis: „Sie muss gespielt werden, weil der Grand Prix für Frieden und Freiheit aller Länder dieser Welt steht.“
Eine reiche musikalische Reise
Und so rollt eine dramaturgisch zuerst etwas hakende, aber dann kräftig an Schwung zulegende Hommage ab, deren zweieinhalb Stunden sich wie eine bewegend reiche musikalische Reise anfühlen. Unglaublich, wie viele gute Songs der häufig belächelte Gesangswettbewerb hervorgebracht hat, dessen 66. Ausgabe im Mai in Italien über die Bühne gehen soll.
Dass Pasquale Aleardi ihn nicht Eurovision Song Contest nennt, sondern wie ehedem „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ zeigt an, dass die von Danny Costello inszenierte und choreografierte Hommage ausführlich in der Vergangenheit schwelgt.
In den fünfziger und sechziger Jahren, als Singen in der jeweiligen Landessprache üblich war und die Nationen ohne Angst vor Punktverlust die eigenen Gesangstraditionen einbrachten. Und in den siebziger und frühen achtziger Jahren, als Schlager und Disco den Grand Prix prägten und die Themen der Umwelt- und Friedensbewegung Einzug hielten.
„Hätte die Welt damals auf Katja Ebstein gehört, hätten wir die Energiewende schon hinter uns“, kommentiert Aleardi die heutig anmutende Öko-Ballade „Diese Welt“. Sie erklingt zusammen mit Nicoles Heuler „In bisschen Frieden“, in einem schicken Doppelarrangement des Bandleaders Damian Omansen.
Gewinnertitel jüngeren Datums kommen aber auch vor: „Rise Like A Phoenix“, Conchita Wursts Befreiungshymne intoniert der ebenso queere Holländer Martin Mulders als donnernde Powerballade. Und den 2017 siegreichen, chansonesken Grand-Prix-Titel aus Portugal „Amar Pelos Dois“ trägt der in Melancholikerpose am Bühnenrand hockende Pasquale Aleardi als stillen Rausschmeißer vor.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Als Sänger bleibt der Schauspieler verglichen mit seinem Ensemble eher blass. Ein Meniskusschaden, den Aleardi sich kurz vor der Premiere bei den Proben zugezogen hat, behindert seine tänzerische Geschmeidigkeit. Dafür lässt es der Schweizer Charmebolzen nicht an Kollegialität fehlen und stellt sein Ensemble – Andreas Bieber, Anke Fiedler, Sigalit Feig und Martin Mulders – eigens in kleinen Talks vor.
Gesanglich sind die vier auch als Solisten allesamt Granaten. In den Medleys verschmelzen sie zu kunstvollen Gruppenformationen, der jede und jeder individuelle Spitzen aufsetzt. Schrägstes Beispiel ist eine den Gaga-Liedern gewidmete Nummer. Sie vereint Nonsense-Songs wie „La, la, la“, „Boom, Boom“, „Ring-Dinge-ding“, Sing, sang, song“ und Stefan Raabs „Wadde hadde dudde da“. Sie sind laut Gastgeber Aleardi der Beweis dafür, dass Musik die Menschen auch ohne Botschaft erreicht.
Peter Urban tönt kurz aus dem Off
Als Running Gag fungieren die ESC-typischen Voting-Schalten. Sie bestehen aus Einspielern, in denen Andreja Schneider mal eine Blondine mit Schlauchbootlippen in Rom oder eine frömmelnde Brünette in Warschau spielt. Auch Kommentator Peter Urban tönt kurz aus dem Off.
[“Mein Grand Prix” läuft bis 27. März im Tipi am Kanzleramt, Vorstellungen: Di-Sa 20 Uhr, So 19 Uhr.]
Pasquale Aleardis Grand-Prix-Prägung, die sich in der Wohnstube der italienisch-griechischen Gastarbeiterfamilie zugetragen hat, wo Mutter und Vater für ihre Heimatländer fieberten, ist eine nette Geschichte. Als über den ganzen Abend gezogene humoristische Moderation zündet sie nicht.
Was „Mein Grand Prix“ trotzdem zu einem tollen Abend macht, ist schlicht und einfach der umwerfende Wumms der Musik. In Form des zu recht vergessenen, kuriosen israelischen Beitrags „Shir Habatlanim“. Des gesungenen portugiesischen Gebets „Oracao“. Der türkischen Geschlechterkriegsnummer „Bana Bana“. Oder des zum Welthit avancierten Abba-Knallers „Waterloo“.
Auf das Ende des Kalten Kriegs reagiert der Grand Prix 1990 mit „Insieme“, dem italienischen Gewinnertitel. „Unite, unite, Europe“ lautet der Refrain. Herrliche Zeiten. Dreißig Jahre später herrscht in Europa heißer Krieg.