Mehr U 21 wagen
Wenn irgendwo – egal ob in der Politik, der Wirtschaft, der Kultur oder dem Sport – eine lange Ära zu Ende gegangen ist und eine neue Zeit beginnt, dann kommt naturgemäß recht schnell die Fragen auf, was sich denn jetzt eigentlich genau verändert hat und was vielleicht immer noch so ist, wie es vorher war.
Auch Hansi Flick, der neue Bundestrainer, bewegt sich nicht losgelöst im geschichtsfreien Raum. Sein Wirken steht in direktem Zusammenhang zu der Arbeit seines Vorgängers Joachim Löw, der immerhin 15 Jahre lang in leitender Funktion bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft tätig war.
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Zwei Länderspiele liegen nun hinter dem neuen Bundestrainer. Einiges ist neu, anderes hat den Zeitenwechsel überlebt. Die Nationalmannschaft ist offenbar immer noch zu massiven Schwankungen in ihren Leistungen fähig, wie es auch in der Endphase der Ära Löw der Fall war.
Schien der Sturz in die internationale Bedeutungslosigkeit nach dem dürren 2:0 gegen Liechtenstein kaum noch zu verhindern zu sein, so war das Team nur drei Tage später nach dem überaus beschwingten 6:0-Erfolg gegen Armenien quasi schon wieder Weltmeister.
Ein bisschen Mitte kann nicht schaden, weder der Mannschaft in ihren Leistungen, noch dem Umfeld in den Bewertungen dieser Leistungen. „Das war jetzt nicht der Übergegner, auf den wir in einem Achtel- oder Viertelfinale einer WM treffen“, sagte Timo Werner, der am Sonntagabend in Stuttgart eines der sechs Tore zum Sieg gegen die Armenier erzielt hatte.
Plötzlich funktionierte die Offensive
Und trotzdem: Dieses Spiel hatte einen hohen Unterhaltungswert. Die Trägheit war plötzlich wie weggeblasen. Das Team hatte Spaß an der Offensive, Spaß an der eigenen Stärke und Spaß am Plan ihres Trainers. Es war fast ein bisschen surreal, dass die Deutschen die durchaus berechtigte Kritik an ihrer harmlosen Offensivdarbietung gegen Liechtenstein mit einem regelrechten Offensivfeuerwerk gegen Armenien konterten.
Bundestrainer Flick hatte seinen Spielern den Auftrag erteilt, „dass wir einfach einen Fußball spielen, der begeistert, der Freude macht, Freude auf mehr. Das war der Fall. Nicht mehr und nicht weniger.“ Auch wenn Armenien letztlich kein Maßstab war, soll eben dieser Auftritt gegen Armenien für die Deutschen fortan sehr wohl der Maßstab sein. Solche Leistungen nicht nur punktuell, sondern dauerhaft abzurufen – das ist Flicks Anspruch an seine Mannschaft. „Es gilt einfach, dass wir konstant auf einem hohen Level performen“, sagte Mittelfeldspieler Leon Goretzka.
Das Spiel in Stuttgart lieferte erste Hinweise darauf, wie das funktionieren kann. Dass die Nationalmannschaft mit strukturellen Problemen zurechtkommen muss, ist nicht neu. Es fehlt an Außenverteidigern von internationalem Format, genauso an echten Mittelstürmern. Aber zumindest gegen Armenien fand Flick ein System, das die Stärken akzentuierte und damit die Defizite mehr als überspielte: Aus dem 4-2-3-1 gegen den Ball wurde mit dem Ball eine Art 3-4-3-System mit vielen technisch begabten und kombinationssicheren Spielern in der vordersten Linie.
„Wir haben eine enorme Qualität in der Mannschaft“, sagte Flick. Entscheidend wird sein, ob es ihm gelingt, aus all den Spielern auch ein echtes Team zu formen. Im Deutschen Fußball-Bund gibt es ein durchaus erfolgreiches Modell dafür: die U-21-Nationalmannschaft von Stefan Kuntz.
Flick wechselte drei U-21-Europameister ein
Schon seit geraumer Zeit wird im deutschen Fußball darüber geklagt, dass es nicht mehr die Talente im Übermaß gebe wie noch vor zehn, zwölf Jahren. Und doch war kein Land in der jüngeren Vergangenheit mit dem ältesten Jahrgang im Nachwuchsfußball erfolgreicher als die Deutschen. Kuntz hat seit seinem Amtsantritt im Sommer 2016 mit seinem Team jedes Mal das Finale der U-21-Europameisterschaft erreicht, 2017 und 2021 gewann er sogar den Titel.
Mehr U 21 wagen, das könnte auch für Flick ein Mittel zum Erfolg werden. Drei der fünf Spieler, die er gegen Armenien eingewechselt hat, sind im Juni mit der deutschen U 21 Europameister geworden: der überaus begabte Florian Wirtz, der schon gegen Liechtenstein sein Debüt für die A-Nationalmannschaft gefeiert hat, sowie Karim Adeyemi und David Raum, die nun in Stuttgart folgten.
Das letzte Tor zum 6:0 entsprang einer wunderbaren Kombination zwischen dem 18 Jahre alten Wirtz und dem 19 Jahre alten Adeyemi, der für RB Salzburg in der österreichischen Bundesliga spielt. Nach einem Doppelpass inklusive Hackentrick erzielte Adeyemi sein erstes Länderspieltor. „Er hat gezeigt, dass er im Strafraum eiskalt ist und seine Chancen nutzen kann“, sagte Bundestrainer Flick über den gebürtigen Münchner, der in Salzburg in den ersten sechs Saisonspielen auch schon sechs Mal getroffen hat.
Adeyemi, Sohn einer Rumänin und eines Nigerianers, ist nicht nur der erste Spieler aus der österreichischen Liga, der für die deutsche Nationalmannschaft zum Einsatz gekommen ist; er ist auch der erste Länderspieltorschütze, der im dritten Jahrtausend geboren ist. Und so hat die Nationalmannschaft, die so lange in der Vergangenheit gefangen schien, plötzlich wieder eine Zukunft.
Die Personalpolitik von Bundestrainer Hansi Flick ist bisher darauf reduziert worden, dass er an alten Recken wie Ilkay Gündogan, Marco Reus, Thomas Müller und vermutlich auch Mats Hummels festhält. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass Flick auf einer soliden Basis an Erfahrung längst den Neuaufbau eingeleitet hat. „Das ist eine Sache, die wichtig ist, weil man immer wieder Alternativen braucht“, sagte Flick. „Das tut ganz gut und ist für die Mannschaft ein guter Prozess.“