Seitenhiebe vom Knarzkopf
Von einer Sekunde zur anderen kippt die Welt, seine Existenz gerät ins Schwanken. Er steht auf dem Flur und weiß nicht mehr, wohin er wollte. Angst mischt sich mit Verblüffung. „Die Bilder, die meine Augen übertrugen, waren nicht gleich. Sie fügten sich nicht zu einem Bild zusammen.“ Hat er sich in ein Chamäleon verwandelt, das mit jedem Auge etwas anderes sieht? „Ist etwas passiert?“, fragt seine Geliebte. Er will antworten, sagen: „Der Computer muss ausgeschaltet werden.“ Das ist ihm wichtig, keiner soll seine Notizen lesen. Doch er kann nicht mehr sprechen, will mit dem Arm auf den Computer zeigen und stürzt auf den Boden, weil er den rechten Arm nicht mehr heben, das rechte Bein nicht mehr bewegen kann. „Hilflos, waidwund“, fühlt er sich. Um 23.15 Uhr ist der Notarztwagen da.
Der Schlaganfall trifft Manfred Krug am 30. Juni 1997, wenige Monate nach seinem 60. Geburtstag. Seine Notizen kann nun jeder lesen, in den Tagebüchern der Jahre 96/97, die Krugs langjährige Lektorin Krista Maria Schädlich aus dem Nachlass des 2016 verstorbenen Schauspielers herausgegeben hat. Die dreißig Seiten, in denen er von der Krankheit, seiner Zeit im Charité-Klinikum und der anschließenden Reha erzählt, gehören zu den eindrücklichsten, auch literarisch überzeugenden Passagen.
Schaf klingt wie Schöps
Als er mit Schmerzmitteln vollgepumpt im Rettungswagen durch die Stadt gefahren wird, denkt er: „Soll es nur so sanft und schmerzlos weitergehen, bis du nichts mehr spürst“. Später findet er es kurios, dass er das Wort „Schaf“ hervorbringt, wenn er den Namen „Schöps“ nennen will. Schaf und Schöps liegen offenbar in derselben Hirnschublade. Und er freut sich diebisch, dass die „Ratten von der Presse“, die im Krankenhaus „herumschnüffeln“, von den Ärzten und Pflegern in die Irre geführt werden.
Detailliert beschreibt er die Operation, bei der ihm unter örtlicher Betäubung ein Herzschrittmacher eingepflanzt wird. Anschließend ärgert es ihn, dass das Gerät „als Beule deutlich zu sehen ist und wie eine lockere Scheibe unter meiner Haut hin und her wabbelt“. Das Schreiben muss er wieder lernen, anfangs mit Großbuchstaben. So hat er einen Teil der Erlebnisse in ein Diktiergerät gesprochen, einen anderen wenige Monate später schriftlich hinzugefügt.
Der Titel „Ich sammle mein Leben zusammen“ passt zu der Bruchstückhaftigkeit der Aufzeichnungen. Sie beginnen mit einem Familiendrama. Krugs Ehefrau Ottilie, die er vor dreißig Jahren geheiratet hat, begegnet seiner Geliebten Petra. Ausgerechnet in der Werkstatt, die der Schauspieler gegenüber der Wohnung nutzt, noch dazu mit dem Produkt der neuen Liebe, einem Baby namens Marlene. Zwei Tage herrscht Funkstille zwischen den Eheleuten, aber „Otti“ reagiert offenbar gefasst. Das Vaterglück („Immer wenn Petra sagt: ,Sag mal Mama’, dann sagt sie ,Papa!’“) zieht sich durch die Erinnerungen, ähnlich wie Verbundenheitsadressen an die Gattin und das Lob ihrer Küche (gebratene Enten, „Paradestücke wie immer“).
Unmut über Drehbücher
Krug war spätestens mit der Fernsehserie „Liebling Kreuzberg“ und als Hamburger „Tatort“-Kommissar zu einem der beliebtesten deutschen Stars aufgestiegen. In den Tagebüchern zeigt er sich als großer Knarzkopf. Er schimpft über die nachlassende Qualität der NDR-Drehbücher („versteht kein Mensch mehr“) und die Werbespots, die er für die Telekom dreht („so schlecht, dass man sie wegschmeißen müsste“). Der Einsatz für die Marke wird ihm später schaden, als die Telekom-Aktie abstürzt.
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Im Frühjahr 1996 erscheint „Abgehauen“, Krugs Tagebuch über seinen Abschied von der DDR, nachdem er gegen Wolf Biermanns Ausbürgerung protestiert hatte. Der Autor jubelt über den Einstieg in die „Spiegel“-Bestsellerliste, vermerkt auch die Namen von Schauspielkollegen, die ihm nicht gratulieren. Längst hat er sich im Berliner Westen eingerichtet, zu seinem Kosmos gehören die Charlottenburger Traditionslokale Diener und „Die dicke Wirtin“.
Doch im Ostteil der Stadt bekommt er mitunter noch immer Beklemmungen, etwa bei Dreharbeiten im alten Polizeipräsidium am Alexanderplatz, ein „ekelhaftes Gebäude“, bewacht von „denselben Kackern, die früher graue DDR-Uniformen trugen“. 1958 hat er dort vier Tage eingesessen, weil er einen Schaffner verprügelte und die 20 Ostmark Strafe nicht zahlen wollte. Die präzis erinnerte Schilderung hat Short-Story-Güte.
[Manfred Krug: Ich sammle mein Leben zusammen. Tagebücher 1996/97. Kanon Verlag, Berlin 2022. 208 Seiten, 22 €]
Wenn Krug jedoch das Weltgeschehen vom Fernsehsessel aus rapportiert (Kohl kandidiert noch mal, Lady Di stirbt, Una-Bomber gefasst), bleibt das biografischer Beifang. Der Schauspieler mag misanthropische Züge getragen haben, war aber auch ein großer Liebender. Besondere Zuneigung galt dem Schriftsteller Jurek Becker, seinem „einzigen Freund, den ich kaum kenne, der sich nicht kennen lässt“. Als der im März 1997 stirbt, ist Krug erschüttert: „Sitze allein in meiner Bude, mir laufen die Tränen runter.“
Die schönste Szene gilt der Rückkehr in die Wohnung nach dem Schlaganfall. Krug weint fast vor Glück über ihren Geruch: „Da ist das Leder der Buchrücken, der Wollduft von den Teppichen und ein Hauch DDR-Sidol, mit dem ich die alten Lampen putze.“