Krieg und Frieden
Heiner Müller, dessen Autobiografie „Krieg ohne Schlacht“ hieß, hatte sein 1982 uraufgeführtes Macht-Drama „Quartett“ mit der Szenenanweisung begonnen: „Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem dritten Weltkrieg.“
Als ihn eine konsternierte Journalistin vor jetzt vierzig Jahren fragte, ob das mit dem dritten Weltkrieg nicht arg pessimistisch klinge, antwortete der schlaue Dichter: „Aber nein, das ist ein Zeichen meines Optimismus. Ich sage doch, Bunker nach dem dritten Weltkrieg!’“
Dieser Sarkasmus trifft unverhofft in unsere aktuelle Stimmung. Wieder wird durch den Ukraine-Krieg eine Zäsur des Bewusstseins von Krieg und Frieden in der Welt beschworen. Bundeskanzler Scholz spricht im Bundestag von einer „Zeitenwende“.
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Bisher galt bei der noch immer gebräuchlichen Formulierung „vor“ und „nach dem Krieg“ oder bei Darstellungen der „Nachkriegsgeschichte“ als Bezugspunkt noch immer der Zweite Weltkrieg. Weil dessen Ende zumindest für Europa und Amerika als Beginn einer neuen Epoche verstanden wurde. Mitsamt der seit knapp acht Jahrzehnten zum vermeintlich sicheren Bestand gewordenen Idee des prinzipiellen Friedens. Wenigstens in Europa.
Fast schon vergessen sind da die zwischenzeitlichen Erschütterungen. Im Herbst 1956 hörten die Nachkriegskinder in rauschenden, von Knistergeräuschen und wohl auch Schüssen durchsetzten Radioberichten von rollenden russischen Panzern in der sonderbar fernen Stadt Budapest.
Russische Panzer standen 1968 in Prag
Auch als wir heute Älteren damals am Nachmittag im Kino saßen, war vor dem Kinderfilm noch in „Fox tönender Wochenschau“ von jenem Budapest und dem Land Ungarn die Rede, und wir sahen die Bilder der Panzer und einen halb zerborsten auf der Erde liegenden riesigen Mann. Ohne schon zu begreifen, dass es das niedergestürzte Stalin-Denkmal vor dem Ungarischen Nationaltheater war. Aber sogar Kinderaugen erkannten in Schwarzweiß, dass die dunkel gefleckten Gesichter der jungen Leute, die sich den Geschützrohren der Panzer entgegenstellten, blutverschmiert waren.
Auf die angstvollen Fragen der Nachkriegskinder erklärten die Eltern, das sei wohl ein Kampf, eine Schlacht – ohne Krieg. Ohne Krieg bei uns. Erst sechs Jahre später, wieder im Herbst, schien die ganze Welt 1962 für einen entsetzlich bangen Augenblick wie gelähmt.
Es waren die Fernsehbilder, noch immer schwarzweiß, auf denen man russische Schiffe mit Raketen bestückt in Richtung Kuba und Amerika fahren sah, und US-Präsident Kennedy dem Kreml-Chef Chruschtschow ein Ultimatum setzte. Krieg oder Frieden. Bis die russischen Schiffe wieder abdrehten und die Vernunft angesichts des atomare Patts der beiden konträren Weltmächte die Oberhand behielt.
Als dann im Sommer 1968 russische Panzer, begleitet von den mitgedungenen Waffenbrüdern des Warschauer Pakts, den Prager Frühlingstraum eines demokratischen Sozialismus niederwalzten, haben die Tschechen und Slowaken wie einst die Ungarn und wie jetzt die Ukrainer den Westen verzweifelt um Hilfe angefleht.
Doch im Bann und zugleich unterm Schutzschild eines Gleichgewichts des nuklearen Schreckens, ist niemand im Westen oder einem anderen Teil der Welt bereit, einen alles und alle zerstörenden Weltkrieg zu riskieren. Nicht vormals für Budapest oder Prag, nicht heute und morgen für Kiew.
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Natürlich ist der Krieg nie aus der Welt gewichen. Aber trotz Vietnam, Afghanistan, Nahost, Balkan, Irak, dem Schock Nine-eleven, trotz Syrien oder afrikanischen Konflikten: Der ganz große und der ganz nahe Krieg schien in Europa und für die westliche Schutzmacht USA nicht mehr recht vorstellbar.
Bis zu Putins Kriegserklärung an die Ukraine und der vom Führer einer nuklearen Weltmacht so noch nie ausgesprochenen Drohung: „Wer auch immer versucht, uns zu behindern (…), muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.“
Zusammen mit Putins Schmähungen der ukrainischen Politiker („Drogensüchtige und Neonazis“) war das nur als Androhung auch nuklearer Vernichtungswaffen aufzufassen. Tatsächlich eine Zeitenwende.
Das Wort von den „Putin-Verstehern“ gewinnt so gleichfalls eine neue Bedeutung. Man möchte den lupenreinen Diktator, der bisher als zwar skrupelloser, aber rationaler Machtpolitiker eingeschätzt wurde, zur eigenen Sicherheit nun tatsächlich besser verstehen. Denn seit den letzten Monaten, Wochen, Tagen ist nicht mehr sicher, was genau im Kopf des Kreml-Herrschers passiert.
Immanuel Kant hat in seiner nur rund fünfzigseitigen Schrift „Zum ewigen Frieden“, die 1795/96 erschienen ist, das Völkerrecht bis hin zur Charta der Vereinten Nationen, zu deren Unterzeichnern nach dem Zweiten Weltkrieg auch die damalige Sowjetunion gehörte, entscheidend geprägt.
Karl Schlögel bezeichnete Putin als “Monster
Es geht darin um das Selbstbestimmungsrecht von Staaten und das Verbot von Angriffskriegen. Doch nicht in einer idealistischen Vorstellung „ewiger“ Friedfertigkeit. Sondern im ausdrücklichen Bewusstsein, dass das Recht und die Bindung durch entsprechende Verträge Völker und Staaten anhalten soll, damit auch die natürliche menschliche Fähigkeit zum „Bösen“ und Gewalttätigen in Schranken zu halten.
Die von der autoritären Staatsführung zur längst offenen Diktatur gewordene Herrschaft Wladimir Putins hat mit der Verfolgung und Ermordung von Kritikerinnen und Kritikern, dem Verbot unabhängiger Medien und Organisationen oder der Unterstützung des massenmörderischen Assad-Regimes in Syrien längst ihren Hang zum „Bösen“ bewiesen.
Wobei zu diesem aus der transzendentalen Sphäre herrührenden Begriff nur zu sehr passt, dass Putin selbst für seine Vorstellungen von Großrussland und des wahrhaft Russischen gerne Mythisches bemüht. Neben den neuesten Lügenmärchen.
Der Berliner Historiker Karl Schlögel, mit russischer Geschichte, Kultur und Mentalität innig verbunden, nennt Putins aktuelle Reden im Grunde „irre“. Und Russlands herausragender Schriftsteller Wladimir Sorokin sieht in Putin ein „Monster“. Das alles sind im vertieften Kontext keine Dämonisierungen.
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Ebenso darf es kein Tabu geben für historische Vergleiche, die keine Gleichsetzung bedeuten, sondern im Vergleich erst Unterschiede oder Ähnlichkeiten deutlich machen. Gerade ist der Geschichtsfilm „München“ mit Jeremy Irons und Ulrich Matthes als Chamberlain und Hitler in den Kinos gelaufen. Angesichts von Putins Scheinverhandlungen zuletzt mit westlichen Politikern muss man zwangsläufig auch an München 1938 denken.
Oder die gespenstischen Inszenierungen vergangene Woche im Kreml. Karl Schlögel empfahl sie im Tagesspiegel als Anschauungsunterricht. Bei Stalins Schauprozessen der 1930er Jahre gab es ja noch keine Fernsehbilder.
Wie Putin einen Tag vor dem Überfall auf die Ukraine als oberster Richter erhaben thronte und in Distanz unter ihm die Spitzen seines Regierungsapparats antreten mussten, um einer nach dem anderen sein Bekenntnis-Geständnis der Unterstützung für die Kriegspolitik vorzutragen, geriet gleichfalls zum Schauprozess.
Das also war wieder: stalinistisches Theater
Während Russlands Außenminister Lawrow, der angeblich nicht zu Putins allerinnerstem Kreis gehört, vor seinem routinierten Auftritt weniger zum Präsidenten aufsah, als verdrossen auf seine Schuhspitzen schaute, stand Sergei Naryschkin das Schweißwasser bis zum Hals. Putin demütigte den sich verhaspelnden Chef seiner Auslandsspionage in einem Katz-und-Maus-Spiel öffentlich bis zu dessen stotterndem Kniefall.
Das also war wieder: stalinistisches Theater. Kurz nachdem das Regime die wichtigste Institution zum Gedenken stalinistischer (und aktueller) Verbrechen, die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, verboten hat. Der einzige Regiefehler: Ein Blick auf die Armbanduhr von Verteidigungsminister Sergei Schoigu verriet, dass die angeblich live übertragene Sitzung im Kreml mit Rücksicht auf Zensurmöglichkeiten, eine zeitversetzte Aufzeichnung war.
Den Weg weg von Schau und Schein ist nun Putins Gegenpart, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj gegangen. Der vormalige Comedian und Clown galt erst als leichtgewichtiger Polit-Amateur. Doch jetzt ist er tragisch gereift, spricht erschütternd klar, mutig, selbst im Pathos des Schmerzes noch als ein mit der Macht des wahren Wortes die Welt anrührender Repräsentant seines Volkes.
Wenn er den Krieg überlebt und für sein Land und Europa noch lebensrettende Verhandlungen erreichen könnte, wäre er der erste Kandidat für den nächsten Friedensnobelpreis.
„Krieg und Frieden“ heißt Leo Tolstois berühmter Roman. Weltliteratur und ein Herzstück russischer Kultur. Das große Buch beginnt mit dem Krieg, der zeitgeschichtliche Höhepunkt ist eine gescheiterte Invasion (Napoleons in Russland). Am Ende aber steht: der Sieg des Friedens.