Die Freiheit und das liebe Geld
Bald impfen sie wieder in der Hamburger Elbphilharmonie. Die erste Pop-Up- Impfaktion im Sommer erwies sich als derart großer Erfolg, dass Anfang Oktober nicht nur der zweite Piks in den Künstlergarderoben abgeholt werden kann, sondern auch ein neues Erst-Piks-Angebot steht. Für das 15-minütige Chillen danach dürfen die frisch Injizierten aufs Konzertpodium des immer noch spektakulären Großen Saals. Echte Musiker-Atmo schnuppern – Corona macht’s möglich.
Kultur in Zeiten der Pandemie, wie geht es weiter nach der Wahl? Nicht nur die Elbphilharmonie, die gesamte Kunst- und Kulturlandschaft ist ja seit März 2020 infiziert, sah sich zum So-Gut-Wie-Nichtstun und zum virtuellen Dasein im Netz verdammt, wurde gefleddert, übergangen, zweckentfremdet. Mit vor allem zwei Folgen, die jede künftige Bundeskulturpolitik auf ihrer Agenda haben dürfte.
Zum einen wurde deutlicher denn je, wie wenig die Politik die Kultur in Krisenzeiten im Auge hat, anders als Wirtschaftsunternehmen, allen Kämpfen und Erfolgen von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zum Trotz. Bei den 38 Fragen des beliebten Wahl-O-Mats thematisiert keine einzige kulturelle Belange, wie der Deutsche Kulturrat kritisch angemerkt hat.
Nicht systemrelevant, also egal für die Wahl? Wenigstens kommt die Kultur bei den Fragen für die Berlin- Wahl vor. Drei Mal sogar, mit Pro und Contra für freien Museumseintritt, Restitution von Raubkunst und einem landeseigenen Migrationsmuseum.
„Was sind uns die Künste wert – im materiellen wie im ideellen Sinne?”, fragte Grütters kürzlich in einem „Zeit“-Essay, gemeinsam mit dem Musikmanager Joe Chialo aus Armin Laschets „Zukunftsteam“. Gleichzeitig haben Kulturschaffende und -institutionen in der Pandemie verstärkt über sich selbst nachgedacht. Brauchen uns die Menschen? Wie können wir auf die zugehen, die kaum je auf die Idee kommen, ein Museum oder ein Opernhaus zu betreten? Wie seelenrelevant sind wir tatsächlich? In manchen staatlich subventionierten Häusern ist die Selbstverständlichkeit der eigenen Existenz einer existentiellen Selbstverständigung gewichen. Das wäre die erste Corona-Konsequenz: dass die Politik mehr auf die Kultur zugeht und die Kultur mehr auf die Menschen.
Dann käme womöglich Habeck selber ins Spiel
Bei Grütters’ und Chialos Gastbeitrag handelt es sich um eine CDU-Replik auf die kulturpolitischen Ausführungen von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und Hamburgs Kultursenator Carsten Bros- da, ebenfalls in der „Zeit“. Sollte Scholz Kanzler werden, dürfte der umtriebige Brosda wohl Grütters’ Nachfolger werden. Wobei Kulturrats-Chef Olaf Zimmermann bei seiner Kandidat:innen- Spekulation auch Michelle Müntefering nennt, die als Staatsministerin für internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt jedoch wenig von sich reden machte.
Bei einem starken Grünen-Mandat könnte es auch auf das von Robert Habeck vorgeschlagene Bundesministerium hinauslaufen, in Kombination mit Bildung oder Bau.
Dann käme womöglich Habeck selber ins Spiel. Oder auch Claudia Roth, die vor wenigen Tagen gemeinsam mit Kultursprecher Erhard Grundl in der „Zeit“ auch noch den Kultur-Fahrplan der Grünen skizzierte.
Die Gegensätze zwischen CDU und SPD sind nicht besonders groß. Beide Texte plädieren für die Aufnahme des Staatsziels Kultur ins Grundgesetz, beide betonen die Unabhängigkeit der Künste und die Notwendigkeit ihres Schutzes.
Und beiden schwebt etwas vage ein engagierter Zusammenschluss zur Stärkung der Kultur vor. Grütters spricht von einem neuen Gesellschaftsvertrag mit Blick auf die Spuren der Not, die die Lockdowns in der Kultur hinterlassen haben. Scholz und Brosda wollen ein bundesweites Kulturplenum aus der Taufe heben und neudeutsch eine great debate anstoßen.
Aber natürlich möchte der Schlagabtausch zwischen den Noch-Großkoalitionären vor allem auf die Unterschiede abheben. Während die Sozialdemokraten einen „Schulterschluss von Geist und Macht“ propagieren – und dabei versichern, die Kunst dürfe nicht instrumentalisiert werden –, zitiert Grütters einmal mehr Schillers Satz von der Kunst als einer Tochter der Freiheit. Sie sei auch keine Tochter der Politik und dürfe keiner Marktlogik unterworfen werden – was Scholz und Brosda aber ohnehin fernliegt.
Besonders knifflig ist das mit der Freiheit beim Blick auf die zunehmende gesellschaftliche Spaltung. Soll Kultur nun ins Herz der Gegenwart zielen und Spannungen aufgreifen oder gefährdet solche Themen-Kunst ihre Autonomie? Kultur schlägt Brücken, so hat es die Politik gern.
Gerade flattert zum Beispiel eine Nachricht des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin in die Mailbox, die auf den interdisziplinären, musikalisch wie menschlich verbindenden Konzertabend „Über Brücken“ hinweist. Klingt überaus sympathisch. Aber ist das schon der Anfang der Verzweckung der Künste?
Kultur muss krisenfester gemacht werden
Die zweite Corona-Konsequenz: Kultur muss krisenfester gemacht werden. Die großen Parteien sind sich weitgehend einig darin, dass das Prekariat von Künstler:innen nicht naturgegeben ist, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Mal sehen, ob den Lippenbekenntnissen Taten folgen. Vor allem die Grünen halten neben mehr Gendergerechtigkeit und der Notwendigkeit eines kritischeren Preußen-Bilds (Stichwort Humboldt Forum) eine bessere ökonomische Absicherung für unabdingbar. Aber sie liegt auch Grütters am Herzen, einschließlich einer erweiterten Künstlersozialversicherung.
So oder so wird die Kulturpolitik sich mehr als bisher mit der Frage befassen müssen, wovon Kulturschaffende denn bitte leben können und sollen, zumal die Solo-Selbstständigen. Die Grünen finden darüber hinaus, dass der Bund den wegen Corona-bedingt geringerer Steuereinnahmen darbenden Kommunen stärker unter die Arme greifen muss, ebenso den Ländern. Notgedrungene Kürzungen bei staatlichen Häusern abzuwenden, mehr Einwerben von Drittmitteln, auch das kommt in der nächsten Legislaturperiode sicher auf die Tagesordnung.
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Eine strukturelle Erneuerung der Kulturförderung, wie sie den Grünen vorschwebt, dürfte aber kaum mal eben so über die politische Bühne gehen. Jede Reform, die die Kulturverantwortung von Kommunen und Ländern deutlich Richtung Bund schiebt, wäre ein Paradigmenwechsel, wie der bundesdeutsche Föderalismus ihn noch nicht gesehen hat. Die Debatte darüber steht womöglich ins Haus.
Wären noch die Bauprojekte.
Das Humboldt Forum ist eröffnet, es bleibt heftig umstritten. Ob die Politik es schafft, die Auseinandersetzungen der Öffentlichkeit und den Museumsverantwortlichen zu überlassen? Welcher Zwist steht beim Museum des 20. Jahrhunderts noch bevor, das 2026 eröffnet werden soll? Und das größte Umbauprojekt der Bundeskultur, die Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz? Ist bis heute mehr Versprechen als Realität. Es wird spannend zu sehen, wie diese Baustellen demnächst beackert werden, ob die Nachfolgerin von Monika Grütters nun Monika Grütters heißt oder anders.