Geisterbahn im Brutalismus
Was Karl Marx wohl sagen würde? Dass sein Konzept des unheilbaren Risses zwischen Gesellschaft und Natur (englisch: Metabolic Rift) als Namensgeber für ein Kunstevent im Berliner Kraftwerk dient – ausgerechnet in diesem Kolossalbau des Anthropozäns, ausgerechnet nach einer globalen Pandemie, die eben diesen Riss zwischen Natur und Menschgemachtem verdeutlicht hat.
Nach zweijähriger Corona-Pause meldet sich das Atonal Festival unter der Devise „Metabolic Rift“ zurück und feiert Sonntagabend seinen Auftakt im Kraftwerk. Anders als in den Vorjahren erstreckt sich dieser Pflichttermin für experimentelle Musik und Kunst nicht nur über ein paar Tage, sondern gleich einen ganzen Monat (Berlin Atonal Festival: „Metabolic Rift“ bis 30. Oktober 2021, Tagestickets ab 15 Euro. Weitere Infos: https://the-metabolic-rift.com/de/).
Überhaupt weist die diesjährige Edition nur wenige Gemeinsamkeiten mit den bisherigen auf. „Wir probieren ein neues Format aus. Für uns bedeutet das, die üblichen Mechanismen hinter so einem Event komplett zu überdenken“, sagt Laurens von Oswald, einer der beiden Organisatoren. Zusammen mit seinem Co-Kurator Harry Glass nutzte er die Pandemie, um ein neues Konzept zu entwickeln, das seit seiner Neuauflage im Jahr 2013 experimentelle elektronische Musik mit multimedialer Kunst flankiert.
Neben sieben Konzertabenden mit Acts wie dem kanadischen Klangkünstler Tim Hecker, dem Berliner Moritz von Oswald Trio oder dem britischen Technoproduzenten Actress läuft im Gebäude eine Daueraustellung – wobei schon der Begriff Ausstellung zu kurz greift. Vielmehr erwartet das Publikum eine Geisterbahn der etwas anderen Art.
Sie tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden auch wieder dorthin
Kleine Besucher:innengruppen erkunden bisher unerschlossene Winkel des Kraftwerks und lassen sich von der Kunst durch das Gebäude leiten. „Es geht nicht um bloßes Betrachten oder um ein statisches Kunsterleben, die Werke performen für das Publikum“, erklärt Glass, „sie tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden auch wieder dorthin – wie bei einer Geisterbahn.“
Statt auf Angst und Schrecken setzt der multimediale Streifzug dabei vielmehr auf einen Schwellenzustand, in dem man Teil einer immersiven Erfahrung wird. Metabolic Rift soll mehr sein als eine reine Gruppenausstellung, die Künstler:innen werden laut dem Kuratorenteam eingeladen, sich an einer ganzheitlichen Erzählung zu beteiligen.
„Besonders während der Pandemie haben viele Trost und Geborgenheit in der Zusammenarbeit mit anderen Künstler:innen gefunden, quasi als Ersatz für das Publikum“, so Glass, „Diesem Spirit wollen wir hier eine Bühne bieten.“
Viele der in Auftrag gegebenen Arbeiten sind Kollaborationen zwischen Künstler:innen aus verschiedenen Genres und Disziplinen. Etwa das psychedelische Stop-Motion-Werk der amerikanischen Computerkunstpionierin Lillian F. Schwartz. Die mittlerweile 94-Jährige musste aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität zu ihrem anfänglichen Medium, dem Zeichnen per Hand, zurückkehren. In dieser eigens für das Festival entstandenen Videoarbeit werden ihre Bilder mit den wummernden Subbässen der chinesischen Produzentin Hyph11E unterlegt.
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Auch die Konzertreihe bietet mit dem Light-Years-Abend ihr eigenes kollaboratives Highlight. Für dieses Live-Projekt arbeitet die italienische Synthkomponistin Caterina Barbieri abwechselnd mit anderen Weggefährt:innen der experimentellen Clubmusik, beim Atonal Festival wird sie vom Saxophonisten Bendik Giske und der Produzentin Nkisi begleitet. Szenografisch umrahmt werden die flirrenden Synthesizer und wabernden Beats dabei vom Berliner Künstler MFO.
Das Interdisziplinäre ist ebenso in der DNA des Festivals verankert wie die Freiheit zum Experimentieren. „Andere Festivals haben sicherlich konkretere Erwartungen an die Künstler:innen“, sagt die in Berlin lebende Klangalchemistin Perila, die am heutigen Sonntag mit ihrem hypnotisierenden Mix aus ätherischem Ambient und Field Recordings das Festival mit eröffnet.
„Ich habe wenig Interesse daran, einfach meine Albummusik zu spielen, das Atonal ermutigt einen geradezu, Neues auszuprobieren.“ Für ihren Auftritt im Kraftwerk, dieser sakralen Kathedrale des Beton-Brutalismus, plant sie eine immersive Performance, in der sie sich konzeptuell mit dem Körpergedächtnis auseinandersetzt. Sie wolle mit dem Publikum eine Erfahrung teilen, die danach in den Gedanken und Körpern der Menschen konserviert und nach außen getragen wird – noch lange nachdem die Lautsprechermembrane verstummt sind.
Dass der Dialog zwischen Künstler:innen und Publikum coronabedingt neu gedacht werden musste, darin sieht Perila eine Chance, Musik auch zukünftig anders wahrzunehmen und zu präsentieren. Berlin, sagt sie, könne sich nicht auf dem Status der Clubhauptstadt ausruhen, sondern sollte gerade jetzt wieder den Pioniergeist vergangener Tage entdecken. In diesem Sinne wagt das Berlin Atonal einen mutigen Vorstoß.