Michael Kohlhaas war nicht nur Pferdehändler, sondern auch früher Whistleblower

„Ich soll tun, was der Staat von mir verlangt. Zu seinen unbekannten Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein. Ich kann es nicht.“ Nein, das sind nicht die Worte irgendwelcher Impfskeptiker:innen oder Querdenker:innen. Sie stammen vielmehr aus einem Brief von Heinrich von Kleist, dem großen Getriebenen, der bis zu seinem Suizid am Wannsee die Städte wechselte „wie ein Fiebernder die Kissen“.

So hat es der österreichische Kollege Stefan Zweig vor Zeiten sehr scharfsichtig beschrieben. Und all diese nützlichen Informationen erhält man gleich in den ersten Minuten dieses Abends an der Schaubühne, der eigentlich mit dem Novellentitel „Michael Kohlhaas“ überschrieben ist, aber wie eine performative Lecture nebst projiziertem Kleist-Porträt und Reclamheft-Cover beginnt.

Das Ensemble aus Robert Beyer, Moritz Gottwald, Laurenz Laufenberg, David Ruland, Genija Rykova und Renato Schuch steht aufgereiht vor Pulten am Mikrofon und geht vermeintlich auf maximale Distanz zu allen Einfühlungsangeboten den Kleist’schen wilden Ritt betreffend. Vor zehn Jahren hat an der Schaubühne der Regisseur Alvis Hermanis aus Puschkins „Eugen Onegin“ mal eine „historische Rekonstruktion“ gebastelt, die im hyperrealistischen Salon der Epoche permanent die Handlung durch ironische Kommentare und Erklärungen zu Sitten und des 19. Jahrhunderts brach. Hat der Brite Simon McBurney hier Ähnliches mit dem „Kohlhaas“ vor?

Ums Publikum gewittert es soundgewaltig

Nicht ganz. McBurney und seine Mitregisseurin Annabel Arden sind durchaus willens, sich in die volle Dramatik der Geschichte um den berühmten Pferdehändler zu stürzen, der sich zum Racheengel aufschwingt. Nur eben im Stile einer Art Live-Hörspiel mit Video-Bonus, das soundgewaltig übers Publikum gewittert und seine Mittel illusionsfrei offenlegt.

Das große Plus dieses zweistündigen Abends: Die Kleist’sche Geschichte mit all ihren Wendungen und Wirren wird in der Fassung des Regieteams, der Dramaturgin Maja Zade und des Ensembles so greifbar und nachvollziehbar erzählt, wie es noch selten zu erleben war. Renato Schuch gibt den Kohlhaas, der an der Burg des Junkers Wenzel von Tronka mit der fadenscheinigen Forderung nach einem Passierschein aufgehalten wird und seine Rappen nebst Knecht zurücklassen muss. Später findet er den Knecht verdroschen und verjagt und die Pferde halb verhungert vor (Moritz Gottwald und Laurenz Laufenberg spielen sie in Unterhose auf Krücken – ein plastisches Bild des Jammers).

Kohlhaas legt ganze Städte in Schutt und Asche

Kohlhaas will sein Recht, wird vor Gericht aber abgewiesen. Seine Frau (Genija Rykova) lässt zu allem Überfluss noch ihr Leben beim Versuch, dem Gatten zu helfen. Also greift der Erniedrigte und Beleidigte mit zunehmend irrlichternder Verve zur Selbstjustiz und beginnt, ganze Städte in Schutt und Asche zu legen. Bilder aufgewiegelter Massen flimmern dazu über die Mosaikplatten der Projektionsbühne von Magda Willi (Videodesign: Luke Halls), auf der Tonspur rattern Maschinengewehre und donnern Düsenjets (Sound: Benjamin Grant). Sehr kunstvoll. Und mitnehmend bis zum Ende, wo ein Tauziehen der Kurfürsten um den Kohlhaas beginnt.

Bleibt nur die Frage: Welche Haltung haben McBurney und Annabel Arden eigentlich zu der Geschichte? Nahegelegt wird (vor allem im Programmheft), den Pferdehändler als einen frühen Whistleblower zu sehen. Okay, Kohlhaas ist im Besitz von exklusivem Wissen. Eine alte Frau hat ihm ein Amulett zugespielt, in dem sich eine Prophezeiung über den letzten Kurfürsten aus dem Hause Sachsen befindet (was für ein kühner Plot-Twist!). Und klar, der Mann steht quer zu den Autoritäten seiner Zeit. Aber wirklich schlüssig erscheint das Deutungsangebot nicht. Dafür sind die rein persönlichen Motive des ambivalenten Helden auf seinem Furor-Feldzug dann doch etwas zu ausgeprägt.

[Nächste Vorstellungen: 4., 6. bis 11., 13. bis 18. Juli, weitere im August]

Sei’s drum. Auch ohne erkenntnistiefen rache- und reuephilosophischen Überbau bleibt dieser „Michael Kohlhaas“ ein lohnender Abend. Das Fieber des Getriebenseins jedenfalls überträgt sich.