Ein Kinn für alle Fälle
Seit inzwischen fast drei Jahrzehnte versteht man sich bei Pixar glänzend darauf, den Fans in immer neuen Varianten eine Rekonstruktion von Gefühlen, Orten und Kindheitserinnerungen zu verkaufen, die mit dem Begriff Nostalgie nur unzureichend beschrieben ist. Nostalgie trifft schon deswegen nicht zu, weil diese Schlüsselreize fabriziert sind. Sie evozieren Gefühle an etwas Vergangenes, das man selbst nie erlebt hat und einem dennoch unwillkürlich vertraut erscheint.
Dass die Imagination in der Pixar-Logik letztlich auch nur ein Produkt ist, dem man bei der Entstehung und Entfaltung (wider alle dramatische Komplikationen) zusehen kann, macht in den besten Momenten – von „WALL-E“ über „Alles steht Kopf“ bis „Soul“ – den visuellen Charme dieses anthropomorphen Metaversums aus. Ein größeres, vielleicht auch vergifteteres Kompliment kann am einem Filmstudio gar nicht machen, als ihm zu bescheinigen, die Fantasie- mit der Warenproduktion erfolgreich kurzzuschließen. Mit den Gefühlen des Publikums zu spielen und gleichzeitig in den Maschinenraum dieser affektiven Arbeit zu blicken, ist ein alter Trick des Kinos. Bei Pixar hat man ihn aber kind- wie auch erwachsenengerecht perfektioniert.
Am besten funktioniert diese Instant- Nostalgie immer noch in den „Toy Story“-Filmen, mit denen Generationen von Zuschauer:innen – im Gegensatz zu den Spielzeugfiguren – älter geworden sind. Die Alterslosigkeit der Protagonisten kann sich für ein langlebiges Franchise als unschätzbarer Vorteil erweisen – zumindest bis ihr pubertierender Besitzer das Spielzeug irgendwann auf den Dachboden entsorgt. Es ist eine andere Kino-Nostalgie als die, die Hollywood heute bedient, wenn es den gealterten Fans die Helden der Vergangenheit – von Luke Skywalker bis zum Terminator – in ihrer fragilen Vergänglichkeit vorführt.
Insofern ist „Lightyear“, ein Spin-off der „Toy Story“-Filme, das das Studio als Prequel verkauft (schamloser Etikettenschwindel!), ein kluges Reverse Engineering der Pixar-Nostalgie. Space Ranger Buzz Lightyear, der in den 1990ern im Retro-Kinderzimmer des kleinen Andy den neuen Hightech-Gimmick verkörperte, reist in seinem Solofilm gewissermaßen in die Zukunft. Sein kantiges Kinn weist dabei keine Alterungserscheinungen auf, für ihn dauert jeder Testflug mit Hyperantrieb nur wenige Minuten. Seine mit ihm auf einem Planeten gestrandeten Kamerad:innen altern dagegen jedes Mal um Jahre.
Alles dabei, Tentakelmonster und Riesenroboter
So ist „Lightyear“, im Gewand eines virtuos animierten Science-Fiction-Films mit Tentakelmonstern und Riesenrobotern, auch eine Meditation über das Älterwerden – und damit, zwangsläufig, über persönliche Lernprozesse im Stil eines Crash-Coachings. Für den Space Ranger vollzieht sich diese Entwicklung in kürzester Zeit, während um in herum eine Generation auf die andere folgt. Im Original leiht Chris „Captain America“ Evans Buzz seine Stimme, ein Superhelden- Crossover unterm Disney-Banner.
[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]
Die Prequel-Idee wird gleich zu Beginn mit einer kurzen Erklärung erklärt – und abgehakt. „Lightyear“ ist der Film um den fiktiven Space Ranger, der in „Toy Story“ als Actionfigur in Andys Kinderzimmer landete. Doch ohne die alten Spielzeugkameraden geht „Lightyear“ der Charme der Originalfilme ab, auch seine neue Crew kann dies nicht kompensieren.
(In 19 Berliner Kinos, auch OV)
Um seine Rettungsmission, die Rückkehr der Weltraum-Kolonisatoren zur Erde, doch noch erfolgreich zu beenden, muss er sich mit einer Gruppe minderbegabter, aber umso tatkräftigerer Außenseiter begnügen: Mo, Darby und Izzy, der Enkelin seiner früheren Kommandantin. Zur heimlichen Hauptfigur, und Kandidatin für ein weiteres Spin-off, avanciert jedoch die androide Therapiekatze Sox, die Buzz eigentlich bei der Aufarbeitung seines Zeitreisetraumas unterstützen soll und ebenfalls über ein paar hilfreiche Hightech-Gimmicks verfügt.
Dass man mit einem so familienfreundlichen Unterhaltungsprodukt (auch wenn im Design mehr „Top Gun“ als „Toy Story“ steckt) Kontroversen auslösen kann, verrät einiges über unsere Zeit. Im aktuellen Kulturkampf um Sexualkundeunterricht an US-amerikanischen Grundschulen („Don’t Say Gay!“) steht besonders Disney mit seiner neuen Diversitätspolitik bei Republikanern und rechten Evangelikalen schwer in der Kritik. Dass die Kommandantin, Izzys Oma, mit einer Frau verheiratet ist, hat nun auch zu Kinoboykotts in der muslimischen Welt geführt. Aber das macht gute Science Fiction wohl aus: Man hat immer vor dem Angst, was unserer Wirklichkeit am nahesten steht.