Annika Schleu und das Reit-Drama – der Wettkampf hat die Not provoziert
Es wird eines jener Bilder sein, die von den Olympischen Spielen besonders in Erinnerung bleiben werden: Die Szene vom panischen, bockenden Pferd Saint Boy und seiner verzweifelten, ihn schlagenden Reiterin Annika Schleu. „Hau mal richtig drauf! Hau drauf!“, rief Bundestrainerin Kim Raisner der Berlinerin zu – und in den sozialen Medien brach sogleich Hysterie aus.
Natürlich sollte ein Tier nicht so behandelt werden. Schlimmer aber sind die Strukturen und Regeln, die beide in diese Situation brachten.
Beim Fünfkampf (Fechten, Schwimmen, Reiten, Schießen, Laufen) bekommen die Reiterinnen ein völlig fremdes Pferd für den Wettbewerb zugelost. Nach einer kurzen Kennenlernzeit von nur 20 Minuten geht es für sie in einen Parcours auf M-Niveau, der zweithöchsten von fünf Stufen. Das Pferd kennt den Reiter nicht; der Reiter nicht das Pferd. Ihre Kombination: reinste Willkür.
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Der Fall von Saint Boy hatte dazu noch eine Besonderheit: Es kann sehr schwierig werden, wenn ein Springpferd im Vorfeld schlechte Erfahrungen macht – und Saint Boy wollte schon unter der russischen Fünfkämpferin Gulnas Gubaidullina nicht in den Parcours. Nach mehreren Abwürfen weigerte sich das Tier schließlich, das letzte Hindernis zu überwinden. Wieso wird das Pferd nach einem solchen Vorfall dann nochmal in den Parcours geschickt? Das ist eine Zumutung für das Tier – und auch für die zweite Reiterin.
Reiter und Pferd brauchen ein inniges Verhältnis
Kracht ein Pferd in ein Hindernis, kann es natürlich sein, dass es schmerzt und das Tier Angst entwickelt. Immerhin sind Pferde hochsensible Fluchttiere. Beim Modernen Fünfkampf sollten deswegen dringend die Regeln geändert werden.
Schleu war immerhin auch kein Einzelfall: Sechs von 36 Reiterinnen beendeten die Disziplin punktlos. So gerät ein Wettkampf, auf den man fünf Jahre lang hingearbeitet hat, zur reinsten Lotterie. Annika Schleu galt als Goldfavoritin.
Es ist eine Illusion zu glauben, jemand kann sich auf ein beliebiges Pferd setzten und losreiten. Um Höchstleistungen zu erzielen, geht es in dem Sport nicht nur um Technik. Um Training. Reiterinnen und Reiter brauchen vor allem ein gutes, inniges Verhältnis zum Tier. Aber wie sollen Vertrauen und Harmonie entstehen, wenn sich beide kaum kennen?
Ein Vergleich: Die deutsche auf Dressur spezialisierte Reiterin Isabell Werth holte mit ihrer Stute „Bella Rose“ in Tokio Gold und Silber. Das 17-jährige Pferd kam als Dreijährige in Werths Stall. Sie sammelten Medaillen, gewannen die höchsten Preise. Damit das möglich ist, können Reiter und Pferd aber keine Fremden füreinander sei.