Was es heißt, die Heimat zu verlieren

„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen“, schrieb Brecht um 1940 in den „Flüchtlingsgesprächen“. Brecht wusste, worüber er seine beiden Flüchtlingsfiguren im Bahnhof von Helsinki sprechen ließ. Der Pass wurde zu einem, ja dem Signum des 20. Jahrhunderts.

In der Dauerausstellung der am Montag mit einem Festakt eröffneten und ab Mittwoch zugänglichen Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SFVV) am Askanischen Platz ist das mehr oder minder unscheinbare Stück Papier – ob Pass, Reisedokument, Erlaubnisschein oder Dekret – wohl das häufigste Objekt. Die Menschen, die insbesondere vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg hin- und hergeschickt wurden, ohne zu wissen wohin und mit welcher Zukunft, mochten zufällig sein; ihre Papiere waren es nicht. Ihre Papiere sprachen von der Logik der Politik, die ganze Bevölkerungen verschob, auf Landkarten, die mal so und mal anders gezeichnet wurden.

Die SFVV ist nicht in erster Linie ein Geschichtsmuseum. Sie ist zuallererst ein Museum von Lebensschicksalen. Sie zeigt exemplarisch und am einzelnen Menschen, an Familien und Gemeinschaften, was es bedeutet, zum Objekt großräumiger, gewaltsamer Politik zu werden. Es geht nicht ums Exil, um die Flucht Einzelner – mögen es schließlich auch viele sein – vor persönlicher Verfolgung. Davon wird das geplante Exilmuseum handeln, das in glücklicher Fügung schräg gegenüber am Portikus des einstigen Anhalter Bahnhofs entstehen soll.

In der SFVV geht es um die Millionen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, darunter vor allem, aber eben nicht nur um die 14 Millionen Deutschen, die aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa zunächst fliehen mussten, dann systematisch vertrieben wurden. Von ihnen fanden 12,5 Millionen Zuflucht in den Besatzungszonen, die von den alliierten Mächten aus dem größeren Teil des besiegten Deutschen Reich geformt worden waren und aus denen 1949 die beiden deutschen Staaten Bundesrepublik Deutschland und DDR hervorgingen.

Die Vertreibungen vollzogen sich bis 1949

Um die Gewichtung, um dieses „vor allem, aber nicht nur“ war jahrelang gerungen worden. Anfangs waren es die Vertriebenenverbände der alten Bundesrepublik, die eine nationale Erinnerungsstätte forderten; später nahm die Bundespolitik das Anliegen auf und formulierte das Ziel eines „sichtbaren Zeichens“. Insbesondere aus Osteuropa kam die Befürchtung, hier solle Revanchismus gepredigt werden, ein Zurück zu den Grenzen von 1939. Über diesen Verdacht ist die Zeit hinweggegangen; auch, weil die Generationen der Erlebniszeugen nach und nach verstorben sind.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die Ereignisse, die mit aller Wucht 1939 einsetzten und sich ein ganzes Jahrzehnt bis gegen 1949 hinzogen, sind Geschichte geworden. Sie müssen einem jüngeren Publikum neu und aus zeitlichem und eben auch emotionalem Abstand heraus erzählt werden.

Das unternimmt die SFVV, und sie macht es auf bemerkenswert faire, sachliche und zugleich emotional anrührende Weise. Eine große Leistung ist dem insgesamt 33-köpfigen Team um Gundula Bavendamm gelungen: den „Balanceakt“ – so die seit 2016 amtierende SFVV-Direktorin –, „Ursachen, Dimension und Folgen von Bevölkerungsverschiebungen in Europa“ zu zeigen. Das ist mit einem Höchstmaß an wissenschaftlich gesicherter Ausgewogenheit geschehen.

63 Millionen Euro (plus 12 Millionen Euro für die Ersteinrichtung) hat der Neubau hinter der historischen Schale des früher „Deutschlandhaus“ genannten Gebäudes gekostet. Die Hauptgeschosse, verbunden von zwei spektakulären Treppen, bieten insgesamt 1500 Quadratmeter Ausstellungsfläche, bestückt mit Medienstationen, Vitrinen und Schrifttafeln, die nur ja keinen Besucher ratlos lassen wollen. Der pädagogische Impetus ist überdeutlich und sicher auch den heftigen Anfeindungen der Entstehungszeit der Stiftung geschuldet.

MEHR ZUM THEMA

Zusammenhang mit der Vernichtungspolitik des NS-Regimes

Niemand soll irgend etwas falsch verstehen können. Dazu gibt es im ersten Geschoss, das aufgrund der ausladenden Treppenbauten des österreichischen Architekturbüros Marte Marte eher zu wenig Platz bietet, sechs „Themeninseln“ von „Nation und Nationalismus“ über „Krieg und Gewalt“ bis „Flucht und Vertreibungserfahrungen“; eine Art begehbares Lexikon, weltweit ausgreifend und bis in die Gegenwart führend. Im zweiten Obergeschoss dann werden immerhin 700 authentische Objekte gezeigt, doch die verstecken sich fast in der aufwändigen Innenarchitektur der Stuttgarter Praxis Atelier Brückner.

Der Leiterwagen einer kroatischen Familie, eines von 700 Objekten der Ausstellung, ist stummer Zeuge einer Fluchtgeschichte.Foto: Markus Gröteke

Pässe, Papiere, Dokumente, dazu sehr viele historische Fotografien prägen den Eindruck, und so ragt der Leiterwagen einer aus Kroatien nach Österreich verschlagenen Familie, die – Glücksfall für Museumsleute – so ziemlich ihr gesamtes Fluchtgerät bewahrt hat, schon sehr markant aus der schwarzen Vitrinenlandschaft heraus.

Die Geschichte der Vertreibung der Deutschen steht im Zusammenhang der Eroberungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes, die den Auftakt dieser Ereignisse bildet. Ethnische „Säuberungen“ als Mittel der Politik waren im frühen 20. Jahrhundert und besonders seit den Friedensschlüssen nach dem Ersten Weltkrieg gebräuchlich geworden. Hitler und Stalin setzten das in großem Maßstab fort, nachdem sie im August 1939 zu ihrer Mesalliance gefunden hatten.

„Versöhnung“ lautet das Programm des Zentrums

Die Ausstellung macht erfahrbar, wie die eine „Umsiedelung“ die nächste bewirkte, wie sich die Richtungen umkehrten, vor allem aber: dass es die Masse der Bevölkerung traf, die eben nicht Akteur, sondern Objekt der Akteure war. Die politische Geschichte – so hat es Gundula Bavendamm in ihrem Eröffnungsstatement gesagt – „ändert nichts daran, dass die Vertreibung ein Unrecht war“.

Ohne Larmoyanz wird erahnbar, was es heißt, Heimat und Vertrautes über Nacht zu verlieren und nichts weiter mitnehmen zu können als das, was in einen Kinderwagen passte, oder einen Mantel mit Pelzbesatz – lebensrettend im Winter 1944/45 –, ein Kästchen mit Schreib- und Zeichenstiften – „Schule ist überall“, und oftmals nichts als Kochtöpfe und Essensbehälter.

Der Erinnerungsarbeit der Vertriebenen wird in der Ausstellung Raum gegeben, etwa in Gestalt einer „Heimatstube“, die noch Jahrzehnte später mit Objekten aus der verlorenen Heimat gefüllt wurde und die hier in einer besonders umfangreichen Sammlung mit Herkunft aus dem heute tschechischen Altvatergebirge vorgestellt wird. Der Kalte Krieg der politischen Blöcke tobt sich auf Briefumschlägen aus, die wegen Briefmarken mit Vertriebenen-Motiv von der DDR geschwärzt und zurückgeschickt wurden. Dickleibige Gesetzestexte sprechen von der Verrechtlichung des Vertriebenenstatus’ und vom Lastenausgleich.

Mit der Errichtung der SFVV ist die Erinnerung in das Stadium der institutionellen Aufbereitung und Vermittlung getreten. Ein Audioguide, in sechs Sprachen erhältlich, wird jedem Besucher mitgegeben; eine als gemütliche Lesestube „niederschwellig“ eingerichtete Bibliothek mit Zeitzeugenarchiv im Altbauteil des Hauses ist frei zugänglich. Ansprechpartner stehen für alle Fragen bereit. Im Erdgeschoss ist ein „Raum der Stille“ in naturbelassenem Holz gestaltet, „ein Ort des Nachspürens“, wie Bavendamm sagt; derlei gehört heutzutage zum Inventar von historischen Museen, die immer weniger Geschichte und stattdessen Geschichten erzählen. Nur ein Ausstellungskatalog steht aus und wird für später versprochen – unverständlich angesichts der langen Vorbereitungszeit des Hauses.

Der Begriff „Versöhnung“ sei für die „Haltung“ des Hauses maßgeblich, sagt Bavendamm mit Blick auf den sperrigen Titel der Stiftung, und fügt hinzu: „Wir geben keine fertigen Antworten. Wir sammeln Fakten. Wir stellen Fragen.“ Jetzt erst, jetzt endlich hat das Kapitel Vertreibungen in der deutschen Erinnerungslandschaft seinen Platz gefunden. (Dokumentationszentrum SFVV, Stresemannstr. 90, Di–So 10–19 Uhr. – Mehr unter flucht-vertreibung-versoehnung.de)