Die Kunst der offenen Schlüsse
Jedes Livekonzert schüttet zur Zeit eine Extraportion Glückshomone aus. Einfach, weil es stattfindet. Festlicher Post-Corona-Zauber erfasst das Publikum zuverlässig nach wie vor und überall, auf Massenpartys bei pfingstlichen Rockkonzerten ebenso wie am Samstag im Pierre Boulez Saal, wo das Heath Quartet einen kleinen Kreis Auserwählter mit perfektem Pianissimo verwöhnt.
Wie fragil dieser Zauber ist, zeigen krankheitsbedingte Ausfälle. Zweimal sollte diese Spitzenformation aus Großbritannien, die sich nach dem Ausscheiden von Oliver Heath voriges Jahr frisch formiert hatte, in der laufenden Quartettwoche antreten. Dann fiel die erste Soiree wegen Erkrankung der neuen Primaria Marije Johnston aus. Fürs zweite Konzert sprang Natalie Klouda ein. Sie hat, als Komponistin und Kammermusikerin, mit The Heath in der Vergangenheit schon Tourneen bestritten.
Ihr Silberton fügt sich farblich-dynamisch prächtig ein in das Gesamtklangbild. Und passt auch perfekt zum vergangenheitstrunkenen Programm.
Henry Purcell war gerade zwanzig, als er seine „Fantazias“ für Gambenconsort schrieb, trotzdem handelt es sich um Spätwerke: Er war der letzte Komponist, der sich anno 1680 mit der längst als veraltet geltenden polyphonen Kurz-Form befasste.
Heute werden seine Fantasien ihrer Zeitlosigkeit und finalen Geschlossenheit halber gern als Zugabe gespielt. Das Heath Quartet dagegen stellt drei davon an den Beginn, mit Vibrato, ohne Barockbögen. Schon der märchenhaft zart zelebrierte Eröffnungstakt der F-Dur-Fantasie verändert die Aura im Saal.
[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]
Benjamin Brittens Weltabschiedsquartett op.94 von 1975 blickt zurück auf die Moderne, es erinnert an die zweite Wiener Schule. Der ironiescharfe Scherzosatz gemahnt an Schostakowitsch, im Passacaglia-Finale zitiert Britten sich selbst. Transparent gestaltet The Heath diesen Höhepunkt. Hinreißend das pausendurchwehte „Solo“-Gebet, ergreifend der offene Schluss.
Eine Pause wäre danach nicht nötig gewesen. Denn Jörg Widmanns Klarinettenquintett schließt direkt an Britten an, provozierenderweise handelt es sich um das scheinbar älteste Musikstück des Abends
Souverän zelebriert das Werk von 2017 den Triumph der offenen Schlüsse. Jörg Widmann selbst, als primus inter pares, entfesselt einen paradiesischen Strom süßer Lamentomelodien auf seiner Klarinette. Das Quartett akkompagniert. Jeder Hauch ein Gedicht. Auch Geräusch-Einlagen können den romantischen Klangrausch nicht stören, erst zwei scharfe Bogenhiebe, durch die Luft, beenden das denkwürdige Konzert.