Bilder vom anderen Staat: Vergessene Filmraritäten aus Ost und West in einer Retrospektive
Festkonzert zum 100. Jubiläum eines Gymnasiums in einer westdeutschen Kleinstadt in den 1950er Jahren. Auf dem Spielplan stehen Liszts „Préludes“. Ein Stück, das niemand in jenen Jahren in Deutschland hören konnte, ohne an dessen Verwendung als Erkennungsmelodie für die NS-Wochenschauen nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion zu denken.
Regisseur János Veiczi widmet dieser Assoziation sogar eine eigene kleine Sequenz in seinem DEFA-Film „Zwischenfall in Benderath“ von 1956. Schockstarr hört eine Mutter ihren Sohn das Stück auf dem Klavier spielen. Vor ihrem inneren Auge ziehen Kriegsszenen vorüber. Veiczis Film handelt von einer Gruppe Jungen an jenem traditionsreichen Gymnasium. Als ein Nazi-Lehrer einen aus der Gruppe antisemitisch beleidigt, verlassen die Schüler die Klasse und stellen dem Direktor ein Ultimatum. Der Skandal zieht Kreise.
Veiczis „Zwischenfall in Benderath“ ist einer von 40 Filmen, mit denen die Retrospektive „Überblendungen. Vergessene Bilder aus Ost und West“ von Donnerstag an im Kino der Brotfabrik die wechselseitigen Blicke von BRD und DDR auf den jeweils anderen Teil Deutschlands beleuchtet. Kurator Jan Gympel hat für die Reihe teils selten sichtbare Film- und Fernseharbeiten zusammengetragen.
Aufgrund der weitgehenden Unmöglichkeit im jeweils anderen Land zu drehen, waren die Filmproduktionen in Ost und West vor allem in den Anfangsjahren darauf angewiesen, sich das Gegenüber im Film selbst zu erfinden. Nicht selten wurden die Differenzen betont, um das Selbstbild zu schärfen. „Zwischenfall in Benderath“ jedoch bemüht sich um Differenzierung und zeigt die Gesellschaft in der Bundesrepublik in ihrer Vielschichtigkeit. Liberale und Konservative, unerschütterliche Nazis und Progressive ringen in dem Dorf exemplarisch um ihren Platz in der jungen Bundesrepublik.
Unter den etwa zwei Dutzend DEFA-Filmen, die sich in den 1950er und 1960er Jahren explizit mit Westdeutschland befassten, fällt „Zwischenfall in Benderath“ durch seine Vielschichtigkeit auf. Als Gegenpol zu dieser Differenziertheit drängt sich der Film „Das verurteilte Dorf“ von 1952 auf. Der Film handelt von einem westdeutschen Dorf, das einem US-Militärflugplatz weichen soll. Falk Harnack, der ursprünglich als Regisseur des Films vorgesehen war, lehnte die Handlung als zu schablonenhaft ab. Martin Hellberg, der für Harnack übernahm, stärkte sogar noch die grobschlächtige Gestaltung des Films.
Auch westdeutsche Darstellungen der DDR waren mal mehr, mal weniger vielstimmig. In Carlheinz Casparis „Aus dem Alltag in der DDR. Erster Versuch einer Rekonstruktion“ versucht ein Erzähler (Hans-Günter Martens) den Menschen in der Bundesrepublik das fremde Wesen DDR-Bürger in nachgestellten Meldungen und Berichten nahezubringen. Die Sendung ist im Stile einer Reportagesendung gehalten, die einzelnen rekonstruierten Szenen werden eingespielt, teils anmoderiert, teils im Anschluss kommentiert. Im Rückblick von heute sind es seltsame Bildwelten, die Caspari entfaltet. Unablässig ist der Moderator um Differenzierung bemüht, doch der holzschnitthafte Eindruck will nicht weichen.
Mit deutlich mehr Drive zeigt der vom Journalisten zum Regisseur gewandelte Will Tremper in seinem Regiedebüt „Flucht nach Berlin“ von 1961 die Flucht zweier Männer aus der DDR. Ein Agitationstrupp kommt in ein Dorf in Sachsen-Anhalt, um die Bauern vom Eintritt in die LPG zu überzeugen. Seit der Flucht des Bürgermeisters nach West-Berlin ist Bauer Hermann Güden (Narziss Sokatscheff) zum de facto Dorfvorsteher geworden. Güdens Familie nutzt ausgerechnet einen Agitationsabend zur Flucht. Er selbst bittet um Aussprache mit dem jungen Oberagitator Claus Baade (Christian Doermer) und flieht ebenfalls.
Nun wiederum sieht sich wiederum Baade Anschuldigungen gegenüber, er habe Güden zur Flucht verholfen. Aus einer Fahrt nach Ost-Berlin, um gegenüber den DDR-Parteibehörden alles richtig zu stellen, wird eine Flucht. Güden spricht auf einer der Transitstrecken eine Schweizerin mit Sportwagen an und bittet sie, ihn bis Berlin mitzunehmen.
Mit durchgedrücktem Gaspedal heizen die beiden bis kurz vor Berlin als sie in eine Polizeisperre geraten. Mitgehangen, mitgefangen muss sich nun auch die hilfsbereite Schweizerin zu Fuß zusammen mit Güden nach West-Berlin durchschlagen. In seiner Konzentration auf die Handlung wirkt „Flucht nach Berlin“ wie befreit vom ideologischen Ballast deutsch-deutscher Ränkespiele.
Diente der DDR ihr Zerrbild der Bundesrepublik zur Schärfung des Selbstbilds, so war die DDR im Film der BRD primär als Land sichtbar, aus dem Menschen fliehen. Eine interessante Ausnahme ist Gerhard T. Buchholz’ „Postlagernd Turteltaube“, der den Selbstbildern beider deutschen Staaten eher skeptisch gegenüber bleibt.
Die DDR wiederum setzte ab Mitte der 1960er Jahre zunehmend eher auf dokumentarische Filme, die Westdeutschland mit ungeliebten Recherchen zur NS-Vergangenheit und zu internationalen Verstrickungen in Kolonialismus und Unterdrückung konfrontierte. Beide Seiten werfen sich kontinuierlich mehr oder minder subtil den unzureichenden Bruch mit der Vergangenheit vor 1945 vor. Die wechselseitige „Überblendung“ erweist sich als lehrreicher Rückblick in die Geschichte der beiden deutschen Staaten.