Für immer jung
„We want ABBA!“ skandieren die stehenden Fans im trapezförmigen Innenraum der eigens für die „ABBA Voyage“-Show errichteten Arena im Osten Londons, wenige Minuten bevor die Weltpremiere des als bahnbrechend gepriesenen Konzerts über die Bühne gehen soll. Aber welche ABBA meinen sie? Die echten ABBA, deren Mitglieder sich am Donnerstagabend – kurz nachdem das Saallicht ausgeht – auf ihre Plätze begeben und sichtlich Freude dabei haben, sich selbst bei der Arbeit zuzuschauen? Oder die digitalen Versionen von ihnen, die von nun an sieben Mal die Woche als Stellvertreter einen 95-minütigen Konzertabend mit 20 Hits bestreiten werden?
Über mehrere Wochen ließen sich die leibhaftigen ABBA im Motion-Caption-Verfahren von 160 Kameras abfilmen, um ihre ABBAtare so natürlich wie möglich erscheinen zu lassen. Aber ist es überhaupt möglich, auf die Art eine reale Verbindung zum Publikum aufzubauen, wie es sich Bandmitglied Björn Ulvaeus so sehr gewünscht hat?
Riesenjubel brandet auf, als die virtuellen ABBA mit 20 Minuten Verspätung aus dem Bühnenboden aufsteigen. Zuerst nimmt man sie nur als Schattenumrisse vor hell erleuchtetem Hintergrund war. Doch dann entblättert sich nach und nach ein buntes Treiben wie zuletzt vor 40 Jahren: Benny Andersson steht hinter dem weißen Tasteninstrument, Björn zupft an der Gitarre, in der Mitte tanzen Agneta Fältskog und Anni-Frid Lyngstad in glitzernden Umhängen zum Eröffnungssong „The Visitors“.
Unglaublich, was die Technologie kann
Die gleichnamige Platte war Ende 1981 das letzte Studioalbum vor der Trennung der Band. Nun soll die Reise also weitergehen und womöglich kein Ende mehr finden. Als Zuschauer mag man seinen Augen nicht trauen, was die Technologie kann. Die vier Figuren dort vorne sehen aus wie eine Band aus Fleisch und Blut! Dafür sorgen Bildschirme mit 65 Millionen Pixel – so viel gab’s noch nicht mal in Hollywood-Filmen! 1000 Mitarbeiter in vier verschiedenen Studios und eine Milliarde Arbeitsstunden sollen in die Kreation der Avatare geflossen sein.
Das hat sich gelohnt. Nur wenn Agnetha in Großaufnahme auf den seitlichen Screens erscheint, zerstört es mitunter die Illusion der echten ABBA. Mancher Augenaufschlag wirkt befremdlich. Langsame Bewegungen liegen Agnetha 3.0 einfach nicht. Dass sich bei den Vocals der Tonspuren der Album-Aufnahmen bedient wurde, ist auch nicht auch unbedingt förderlich für das authentische Live-Feeling. Eine zehnköpfige Live-Band begleitet die ABBAtare.
Surreal wird es, als die Stimme des echten gealterten Benny im Körper seines jungen Avatars das Wort ergreift. „Sein oder nicht sein – das ist hier die Frage“, philosophiert er humorvoll über das eigene Schicksal. „So fühlt es sich also an, durch Zeit und Raum zu reisen… Ich sehe wirklich gut aus für mein Alter.“ Die Lacher hat er damit auf seiner Seite. Und durch sein gut gelungenes Avatar definitiv an Sexappeal dazugewonnen.
Emotional packend und geradezu poetisch ist „Knowing You, Knowing Me“ umgesetzt, mit dem ABBA 1976 erstmals zerbrochene Beziehungen thematisierten. Es ist eines mehrerer Lieder, zu denen die ABBAtare nicht als Performer auf der Bühne, sondern lediglich als Film auf den großen Leinwänden auftauchen.
Benny und Frida umarmen sich. Agnetha und Benny umarmen sich. Frida streicht Agnetha zärtlich über die Wange. Die Ehescheidungen der ABBA-Paare und die Konkurrenzkämpfe zwischen den Frauen – alles Schnee von gestern. Hat nicht jeder von uns schon mal davon geträumt, rückwirkend alles wieder heile machen zu können?
Die Abbatare werfen sogar Schatten
Partystimmung kommt erstmals bei „Chiquitita“ auf. Der Saal klatscht im Kollektiv, während ABBA eine Sonnenfinsternis herbeimusizieren – analog zum Artwork ihres letztjährigen Albums „Voyage“. Und tatsächlich: Auch ABBAtare werfen Schatten! Genau genommen haben die neuen ABBA sogar an Körperlichkeit dazugewonnen: So raumfordernd getanzt wie bei diesem Konzert haben die Frauen früher nicht. 2022 gibt es auch viel mehr Interaktion zwischen den beiden.
Für einen Moment wird die Bühne dunkel. „Ich mochte das Kostüm schon damals nicht. Aber dieses gefällt mir“, kommuniziert Benny hinter dem Vorhang mit dem Publikum. Ein Großteil der Show-Garderobe wurde vom italienischen Modehaus Dolce & Gabbana gefertigt. Ganz in echt aus Stoff mit reichlich Pailletten, nur um die Stücke dann zu digitalisieren. Klingt verrückt, sieht aber gut aus.
Ein paar Szenen später geht es noch mal um Mode. „Sein Kostüm war damals so eng, dass er sich nicht hinsetzen konnte“, macht sich Agnetha über Björns Outfit beim Eurovision Song Contest 1974 lustig. Damals gewannen ABBA mit „Waterloo“ in Brighton den Wettbewerb und ebneten sich die Weltkarriere. „Großbritannien gab uns null Punkte“, meint Björn belustigt. Im Publikum buhen einige für ein Ereignis, das fast 50 Jahre zurück liegt. Die Verbindung zu den ABBAtaren scheint zu funktionieren. Für „Waterloo“ spielen sie den Original-Auftritt des ESC ein.
Frida erzählt von ihrer Großmutter
Je länger das Konzert dauert, desto mehr vermischen sich reale und digitale Akteure. „Dance With You Honey“ wird von den drei Backgroundsängerinnen ihre Begleitband dargeboten. „Ich wollte sie nach der kleinen Bahn-Station gegenüber der Arena benennen, aber sie wollten nicht Pudding Mill Lane heißen“, witzelt Björn. ABBA haben eben ihren ganz eigenen Humor.
Auch Frida und Agnetha haben ihre Moderationsmomente. Frida erzählt von ihrer Großmutter, die sie nach dem zweiten Weltkrieg bei sich aufnahm und großzog. „Mein Vorbild und meine Heldin. Das ist mein Tribut an alle Frauen in der Welt, die sich ihr Leben zurückholten, nachdem alles von ihnen genommen wurde. Meine Liebe und Bewunderung für euch alle.“ Die Sätze des Konzerts, die am besten ins Hier und Jetzt passen.
Choreografien im Laser-Meer
Agnetha bedankt sich indes beim Publikum für die Unterstützung in den vielen Jahren. „Wer hätte annehmen können, dass wir nach 40 Jahren noch mal ins Studio gehen?“ Sie singt „Don’t Shut Me Down“ vom aktuellen Album „Voyage“. Ein rührender Moment.
Der beste Teil der Show ist zugleich der modernste: Zu „Lay All Your Love On Me“ tragen ABBA die schwarzen Catsuits mit Neon-Streifen, die man schon von den „Voyage“-Promotion-Fotos kennt. Agnetha macht Hand- und Armbewegungen, als würde sie bei ausgefallenen Ampeln den Straßenverkehr regeln müssen.
Frida tanzt Choreografien im Laser-Meer, die sich doch eher im 21. Jahrhundert verorten lassen. Von diesem ABBA-Update hätten wir gerne mehr gesehen! Das schönste Bühnenbild gibt es gleich im Anschluss zu „Summer Night City“. ABBA performen in einer Landschaft aus durchsichtigen Pyramiden irgendwo auf einem fernen Planeten. Von der Decke baumeln Leuchtobjekte, die wie Mini-Ufos aussehen.
Bei „Dancing Queen“ sind es Stäbe mit Lampions, die hoch- und runterfahren. Das erinnert an ein japanisches Laternenfest. Dazu wird das gigantische Lichtdesign mit 500 beweglichen Lichtern in seiner vollen Buntheit ausgelotet. Natürlich hält es bei dem Song niemanden mehr auf den Sitzen.
Für den Rausschmeißer „The Winner Takes It All“ fahren ABBA einen 40-köpfigen Chor auf. Ist der echt oder nicht? Am Ende stellt man alles in Frage. Und kaum haben die ABBAtare sich mit Verneigungen vorm Publikum verabschiedet, kommen die echten ABBA von rechts auf die Bühne. Diesen Moment der vielleicht letzten öffentlichen Reunion der Poplegenden schlägt nichts. Und es gibt wohl kaum jemandem im Saal, der dabei nicht feuchte Augen hat. Agnetha tänzelt ein bisschen, sie umarmen sich nochmal und verteilen Luftküsse. Sie sprechen kein Wort. Das wollen sie von nun an ihren ABBAtaren in dieser gelungen Show überlassen.