Ein Duell, das in die WM-Geschichte eingeht: Politik in die Stadien
Durch die Metrostation Msheireb schallen schon vier Stunden vor Anpfiff Fangesänge. Doch es sind nicht die sangesfreudigen Anhänger von den britischen Insel, die da mächtig für Aufruhr sorgen. Hier im Zentrum von Doha treffen aus verschiedenen Himmelsrichtungen die Fans aus dem Nachbarland Iran zusammen.
Gestern beim Eröffnungsspiel wurde noch hitzig über die mangelnde Begeisterungsfähigkeit des Gastgeber-Anhangs diskutiert, nun bleiben für die Journalisten auf Bilder- und Stimmenfang keine Wünsche mehr offen: Eine Männergruppe mit Kopfschmuck und Fähnchen. Grün-weiß-rot-geschminkte Frauen mit Sonnenbrillen und in Hot Pants. Kinder, die auf dem Rücken den Namen von Starspieler Ali Karimi tragen. Drei ältere Damen mit Kopftuch, die einen Schal mit der Aufschrift „Iran“ über ihre Köpfe recken. Und kollektiv ertönt der Schlachtruf: „Iran, Iran, Iran“.
Die Vorfreude auf das Spiel ist spürbar. Als einige Briten aus der Metro steigen, kommt es zu Verbrüderungsszenen. Gemeinsam wird „Football’s Coming Home“ angestimmt. Nichts deutet darauf hin, dass die Fahrt von Msheireb hinaus zur Station Sport City, dem Khalifa International Stadium, zu einem der wohl politisch aufgeladensten Spiele der WM-Geschichte aller Zeiten führt.
Am Freitag wurde DFB-Präsident Bernd Neuendorf gefragt, wie er zu einem Ausschluss des Iran aus dem Turnier stände. Er versicherte den Protestlern in dem islamischen Staat seine volle Unterstützung zu. Dann wurde noch am Nachmittag bekannt, dass die Fifa mit ernsten Sanktionen für Spieler droht, die mit der umstrittenen „One Love“-Binde auflaufen, sodass der britische und deutsche Verband einknickten und ihre jeweiligen Kapitäne alternativ mit der offiziellen Fifa-Binde „No Discrimination“ ausstatteten.
Wütende Proteste der iranischen Fans
Harry Kane kommt dann tatsächlich mit dem blauen Weltverbandstextil auf den Rasen. Doch die Verwunderung über diese erneut schwer nachvollziehbare Entscheidung der Züricher Funktionäre klingt schnell ab. Denn während alle europäischen Fußballkenner gebannt darauf warten, wie die englische Elf den Affront kompensieren würde, nutzen weite Teile des zahlenmäßig um einige überlegenen Anhangs vom Persischen Golf die WM-Bühne, um ihrem Protest gegen das Regime in der Heimat Luft zu machen. Schlachtrufe „Sagt ihren Namen, Mahsa Amini“ schallen durch die Kurve. Frauen tragen Shirts mit der Aufschrift „Zan, Zindagi, Azadi“ und halten dazu Schilder mit der englischen Übersetzung hoch: „Women, Life, Freedom.“
Das englische „God Save the Queen“ ist gerade erst verklungen, als beim Abspielen der iranischen Hymne wütende Protestschreie aufbranden. In der Kurve werden ablehnende Gesten gemacht, man sieht viele Männer schimpfen, den Daumen nach unten drehen oder das „Peace“-Zeichen machen.
Das iranische Lied, das erst seit 1990 offiziell als Nationalhymne Anwendung findet, wird regelrecht niedergebrüllt. Die iranischen Spieler indes verweigern sich ebenfalls, die Hymne anzustimmen. Bis auf einen Assistenztrainer beteiligt sich auch kein Staffmitglied an dem rituellen Akt. Sie schwiegen, obwohl die Sportler wissen, dass ihnen nach der Rückkehr in die Heimat voraussichtlich Sanktionen drohen. Später wird bekannt, dass das iranische Staatsfernsehen in diesem Moment wohl die Übertragung des Spiels abgebrochen hat.
Obwohl die Fifa vor den Stadien eine spezielle „Flags & Posters Evaluation Area“ eingerichtet hat, wo Fans vor Betreten des Stadions ihre mitgebrachten Banner auf Größe, Aufschrift und Beschaffenheit überprüfen lassen müssen, ist es einigen iranischen Anhängern im Unterrang offenbar gelungen, eine etwa 15 Quadratmeter große Fahne in Landesfarben ebenfalls mit der Aufschrift „Women, Life, Freedom“ mit hineinzuschmuggeln, die sie nun unmittelbar vor Anpfiff ohne erkennbares Eingreifen der zahlreichen Volunteers und Securityleute über ihren Köpfen minutenlang auf und ab wandern lassen.
Dass auf dem Spielfeld exakt in diesem Moment die englische Mannschaft niederkniet – ein mittlerweile anerkanntes Zeichen gegen Rassismus – sorgt im Stadion für wenige Sekunden für eine fast sakrale Atmosphäre. Spätestens ab diesem Moment muss auch dem hartleibigsten Fifa-Funktionär bewusst sein, dass Politik, Menschenrechte und Solidarität mit Schwächeren bei diesem Turnier nicht mehr aus den Stadien herausgehalten werden können.
Nur eine weitere Facette des von zahllosen Widersprüchen durchtränkten Turniers
Insbesondere bei dieser Weltmeisterschaft, an der sich wie bei keiner zuvor die Geister scheiden. Der beherzte, mutige Auftritt von tausenden Iran-Fans, die sich sehr wohl bewusst sind, dass ihr Handeln nicht nur vor der Welt öffentlich wird, sondern auch bei den Milizen im eigenen Land, ist nur eine weitere Facette dieses von zahllosen Widersprüchen durchtränkten Turniers.
Dass die Elf des Irans – die schon ab der achten Minute auf ihren Stammkeeper Alireza Beiranvand verzichten muss, der nach einem schweren Zusammenprall mit Harry Kane verletzt vom Platz muss – nach den aufwühlenden Minuten vor Anpfiff nicht ins Spiel findet und am Ende chancenlos mit 2:6 unterliegt, verleiht diesen dramatischen Stunden am zweiten WM-Tag noch eine besondere Tragik.
Doch dieses Spiel könnte vielleicht eine besondere Wendung in der Geschichte dieses Turniers sein. Denn dies waren sicher nicht die letzten politischen Proteste dieser WM. Die Fifa muss sich auf einiges gefasst machen.
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