Nach dem Kummer folgt der Zorn
Im Gedächtnis der Welt hat sich der indische Subkontinent zuletzt vor allem durch die chaotischen Bilder eingeschrieben, die die Corona-Seuche hervorgebracht hat: Menschen, die in langen Schlangen vor Krankenhäusern ein Bett für ihre Angehörigen erbetteln, der Kampf um Sauerstoff, die Pilger im heiligen Fluss, dem Virus zum Trotz.
Sie haben die Bilder aus Kaschmir verdrängt, das 2019 im Auftrag der Regierung Modi von der indischen Armee besetzt, mit Netzsperre belegt und seines seit 1948 garantierten Autonomiestatus beraubt wurde. Am Ende standen Indien und Pakistan vor einer atomaren Krise. Vergessen sind aber auch die Berichte über die diskriminierenden Volkszählungen, in deren Folge Millionen von in Indien lebenden Menschen plötzlich zu Staatenlosen erklärt wurden.
In den wenigen Jahren zwischen 2018 und 2021 hat sich das Land so von einer, zumindest in der Verfassung behaupteten sozialistischen Republik in ein ethnisch ausgerichtetes autoritäres System entwickelt. Das ist der zentrale Vorwurf, den die Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy gegenüber dem hindu-nationalistischen Regime erhebt. Seit dem Machtantritt Narenda Modis und seiner Bharatiya Janata Party (BJP) ist es für die Pogrome gegen die Moslems ebenso verantworten wie für die faktische Einverleibung von Jammu und Kaschmir.
Mit den Augen einer Romanschriftstellerin
„Azadi heißt Freiheit“ ist die Sammlung der in dieser Zeitspanne entstandenen Essays und Vorträge überschrieben. Sie nimmt damit die Parole vieler fortschrittlicher Bewegungen auf. Eine solche „uneingeschränkte und verantwortungsvolle Freiheit“, schreibt Roy in der Einleitung, findet sich für sie auch in der literarischen Fiktion. Einige Essays seien daher „mit den Augen einer Romanschriftstellerin aus dem Universum ihrer Romane her aus geschrieben worden.
[Arundhati Roy: Azadi heißt Freiheit. Essays. Aus dem Englischen von Jan Wilm. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2021. 253 Seiten, 24 €.]
Einige von ihnen handeln davon, wie sich die Fiktion mit der Welt vereint und zur Welt wird.“ In Indien ist die Sprache – 780 werden real gesprochen und 22 in der Verfassung anerkannt – selbst schon ein Politikum. Eine Nationalsprache, gibt es nicht, und Englisch zu sprechen – der Türöffner zum sozialen Aufstieg – ist das Privileg einer Minderheit.
Vor dem Hintergrund ihres eigenen Spracherwerbs – Roys Mutter war eine syrische Christin, ihr Vater Hindu, die sich auf Englisch verständigten, sie selbst erlernte zuerst das Baganiya (Gartensprache) der Indigenen, später Malaylam, Englisch und Hindu – geißelt die Booker-Preisträgerin die Ethnisierungskampagne der Regierung, die die Ausmerzung der Volkssprachen zur Folge hat.
In ihrem Auftaktessay „In welcher Sprache fällt der Regen auf kummergewohnte Städte“, dessen Titel sich Pablo Neruda verdankt, beschreibt sie diese verlustreiche Formung des indischen „Nationalkörpers“. Er steht in Kontrast zur kulturellen Vielfalt des Subkontinents, die Roy in „Der Gott der kleinen Dinge“ und vor allem in ihrem Opus „Das Ministerium des äußersten Glücks“ entfaltet hat. „Übersetzen“, ist sie überzeugt, sei in Indien „eine Straßentätigkeit, die von den einfachen Menschen geleistet würde“.
Gegnerschaft zur Modi-Regierung
Ihre Gegnerschaft zur Modi-Regierung istharsch, es fällt der Begriff faschistisch, der deutsche Ohren aufschrecken lässt. Doch Modi pflegt enge Verbindung zum radikal hindu-nationalistischen Rasthriya Swayamsevak Sangh (RSS), einer Kaderorganisation, die das größte Freiwilligenheer der Welt unterhält, die Vorherrschaft der Hindus betreibt und großen Einfluss in Politik und Gesellschaft hat. Sie stiftet den Straßenmob zu Pogromen gegen Moslems an oder organisiert planmäßig die Zerstörung von Moscheen wie der jahrhundertealten Babri-Moschee.
38 der 53 BJP-Minister haben einen RSS-Hintergrund. Roy erhellt diese Verflechtungen, macht auf die Anpassungsfähigkeit des RSS aufmerksam und scheut sich auch nicht vor Kritik an den Liberalen und Linken im Land, die Modi entweder offen unterstützen oder sich nicht konsequent von ihm absetzen.
Redundanzen liegen dabei in der Natur der zusammengetragenen Beiträge, die in unterschiedlichen Zusammenhängen entstanden sind. Das gilt für die neueren Entwicklungen in Kaschmir wie für das Massaker von Gujarat oder die Inklusions- und gleichzeitigen Exklusionsbestrebungen durch die Volkszählung. Wiederholung ist das Brot des kritischen Geistes, zumal gegenüber einem Regime, das alles tut, um seine Kritiker zum Schweigen zu bringen – bis hin zum Mord.
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Rhetorische Fragen und direkte Leseransprache sind dabei Stilmittel, mit denen Roy ihre Leserschaft zu mobilisieren versucht. Die Lektüre ist in ihrer kenntnisreichen Schärfe politisch bereichernd und in der einfühlsamen Übertragung von Jan Wilm auch literarisch anspruchsvoll. Die beiden letzten Essays handeln von der Pandemie in ihrem „armen reichen Land, das irgendwo zwischen Feudalismus und religiösem Fundamentalismus, Kastenwesen und Kapitalismus schwebt“ und wo Social Distancing schon im Kastenwesen implementiert ist. Es sind ungemein zornige Einsprüche, die die Folgen des innerhalb von vier Stunden verfügten Lockdown für die arme Bevölkerung hervorhebt, durch deren Mobilisierung allerdings genau das Gegenteil von Distanz bewirkt wurde.
Kürzlich hat Indien – was bei Roy kein Thema mehr ist – bei der WTO erneut die Freigabe der Impfpatente für die Schwellenländer beantragt. Das hindert Modi allerdings nicht an einer umfassenden Privatisierungskampagne, die auch das Gesundheitssystem betrifft. Das Gesundheitssystem sei „nicht zusammengebrochen“, so Roy, „es existierte kaum“. Das Versagen der Regierung auf diesem Gebiet betrachtet sie von daher nicht einfach als Nachlässigkeit, sondern als „ein regelrechtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Ulrike Baureithel