Bildungsforscherin zu verheerenden IGLU-Ergebnissen: „Der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg ist ungebrochen“
Frau McElvany, die Ergebnisse der aktuellen IGLU-Studie für Deutschland sind verheerend. Die Lesefähigkeiten der Viertklässler in Deutschland sind erneut zurückgegangen. Was daran bereitet Ihnen besonders große Sorgen?
Ein großes Problem ist, dass wir nicht nur im Mittel deutlich abgesunken sind, sondern insgesamt. Wenn Kinder in so jungen Jahren schon so große Defizite aufweisen, fällt es ihnen sehr schwer, weiterzulernen, von einer Berufsausbildung und umfassender gesellschaftlicher Teilhabe ganz zu schweigen.
25 Prozent der Kinder, die in der vierten Klasse sind, erreichen die Kompetenzstufe III und damit die Mindeststandards beim Lesen nicht mehr. Vor 20 Jahren lag der besagte Wert noch bei 17 Prozent. Das ist für uns als Gesellschaft ein großes Problem, genau genommen für das ganze Land.
Heißt das, die Situation hat sich nach dem Pisa-Schock von 2001 noch weiter verschlechtert?
Ja, damals lagen die Defizite eher bei den älteren Schüler:innen, in der Grundschule lagen wir im oberen Mittelfeld. Inzwischen stehen andere europäische Länder deutlich besser da: Wir müssen nur von Berlin nach Polen gucken, dort betrifft das Problem zehn Prozent der Kinder weniger. Auch andere europäische Länder wie Finnland und England weisen deutlich bessere Werte auf.
Woran liegt dieser Absturz?
Es ist vermutlich eine Mischung aus unterschiedlichen Gründen. Corona spielt sicherlich mit rein, dann aber auch die Zusammensetzung der Schülerschaft. Zunehmend mehr Kinder sprechen zu Hause kein Deutsch. Und während in Deutschland für das Lesen durchschnittlich 141 Minuten pro Woche zur Verfügung stehen, sind es in anderen OECD-Ländern im Mittel etwa 200 Minuten. Da läuft etwas schief.
Betroffen sind vor allem Kinder aus weniger privilegierten Familien, die zuhause weniger gefördert werden. Das ist ungerecht und ein deutsches Phänomen. Woran liegt das?
Leider müssen wir uns eingestehen, dass sich in den IGLU-Befunden in den vergangenen 20 Jahren in Sachen Bildungsgerechtigkeit überhaupt nichts verbessert hat. Der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg ist ungebrochen, da haben die bisherigen Maßnahmen nicht ausgereicht.
Wir müssen in der Grundschule den Fokus stärker auf die Vermittlung der Grundkompetenzen legen.
Nele McElvany
Aber warum wirken sich soziale Unterschiede gerade in Deutschland so eklatant auf Bildungserfolge aus?
Wir sehen empirisch systematische Unterschiede in den erreichten Kompetenzen, in der Benotung und in den Übergangsempfehlungen beziehungsweise dem Übergangsverhalten nach der Grundschule. Später folgen daraus dann natürlich unterschiedliche Bildungsabschlüsse und weitere Bildungs- und Lebenswege.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Aber man kann sicher festhalten, dass es uns bisher nicht gelingt, im vorschulischen und dann im schulischen Bereich Kinder mit weniger günstigen individuellen oder sozialen Voraussetzungen so wirksam zu fördern, dass sie trotz der ungleichen familiären Voraussetzungen ihre Potenziale entfalten können. In anderen Länder sind die Unterschiede zwischen den Schülergruppen zum Teil deutlich kleiner.
Was muss sich ändern in der Bildungspolitik?
Wir müssen in der Grundschule den Fokus stärker auf die Vermittlung der Grundkompetenzen legen. Lesen, Schreiben, Rechnen, müssen als grundlegende Kompetenzen zunächst im Fokus stehen – neben einer systematischen Förderung der Sprachkompetenzen im Deutschen, dort wo dies nötig ist.
Um dies zu ermöglichen, brauchen wir eine flächendeckende Einführung von Screenings und eine gezielte Förderdiagnostik, mit daran anschließenden verbindlichen und später hinsichtlich ihres Erfolgs überprüften Fördermaßnahmen. Eine entsprechende Prioritätensetzung und ein klar geregeltes Vorgehen würden auch die Lehrkräfte entlasten.
Könnten die Ergebnisse der nächsten IGLU-Studie schon besser sein?
In Bezug auf das Nachwirken der Corona-Effekte schon. Aber um grundsätzliche Verbesserungen zu erreichen, brauchen Maßnahmen Zeit, um zu wirken. Dafür sollten wir lieber 2031 in den Blick nehmen.