Allegro tumultuoso

Mitten in der Pandemie sollen die beiden bedeutenden sächsischen Knabenchöre neue Kantoren bekommen. Während in Leipzig Bachs 18. Nachfolger im Thomaskantorat ab dem neuen Schuljahr bereits feststeht, werden in Dresden im Frühsommer vier Kandidaten eine Woche zur Probe dirigieren. Der Auserwählte tritt im Sommer 2022 sein Amt als Kreuzkantor an.

Die Dresdner sind gut beraten, aus dem Leipziger Auswahlverfahren zu lernen: Denn was schon 2015 in Gang gesetzt und ergebnislos abgebrochen worden war, führte ersatzweise zur Wahl des heute 69-jährigen Interimskantors Gotthold Schwarz.

Trotz seiner Bereitschaft zu verlängern, begann die Stadt 2020 mit einer neuen Suche. Die einhellige Wahl fiel im Dezember auf den Schweizer Andreas Reize. Er wäre seit der Reformation der erste Katholik im Amt.

Doch ein Vierteljahr danach gab es darum heftigen Streit: Acht ältere Thomaner nach intern wohl verhallten Versuchen das Wortgefecht mit einem offenen Brief an, in dem sie ihrem künftigen Chef nicht nur die künstlerische und pädagogische Kompetenz absprachen, sondern auch bemängelten, nicht in die Wahl einbezogen gewesen zu sein.

Dinge aus der Vergangenheit sind Anlass für Streit

Dabei war von Anfang an klar: Gefragt und gehört werden die Thomaner, mit abstimmen dürfen sie aber – anders als früher – nicht. „Antidemokratisch“, tönte es auf der einen, „Selbstüberschätzung“ auf der anderen Seite. Beide Parteien hatten ernstzunehmende Argumente.

Zermürbend wurde es dann, weil eine lange Kette von weiteren offenen Briefen, Anfeindungen in den sozialen Netzwerken und Spekulationen über die eigentlichen Hintergründe folgte. Einer solchen Institution würdig war das weder im Ton noch in der Sache.

Als Rechtsträgerin initiierte die Stadt kurzerhand ein Mediationsverfahren, bei dem alle Beteiligten angehört werden, vor allem um die Arbeitsfähigkeit des Thomanerchores wiederherzustellen.

Den Dienstantritt des erfahrenen Kirchenmusikers Andreas Reize stellt bei den Entscheidungsträgern aber niemand mehr in Frage. Ob sich der ehemalige Solothurner Sängerknabe ab September mit den älteren Thomanern wird arrangieren können, dürfte eher Hoffnung als Sicherheit sein.

Anders als seine Vorgänger hat er keinen Stallgeruch, wohl eher ein Vor- als ein Nachteil.

Wird authentisch musiziert?

Der knapp 46-Jährige muss nun all seine vielgelobte Offenheit aufbringen, um die Reihen wieder zu schließen.

„Die Gespräche laufen gut“, sagt Leipzigs Kulturbeigeordnete Skadi Jennicke, „brauchen aber Zeit und haben offenbart, dass manche Aspekte aus der Vergangenheit noch aufgearbeitet werden müssen.“

Dabei gehe es vor allem um das „Rollenverständnis eines kommunalen Chores mit kirchlichen Aufgaben“.

Auch das birgt Konfliktpotenzial, musikalisch wie institutionell: Hält am authentischen Ort der Bachpflege auch authentisches Musizieren Einzug? Bleiben die Rituale im „Kasten“, dem modernen Internatsbau der Thomaner, erhalten? Wie ist das Verhältnis zwischen liturgischen Diensten und Konzerten?

In Leipzig ist der Kulturhaushalt stabil

Fast deckungsgleich stellen sich diese Fragen in Dresden. Welche vier der einst 37 Bewerber noch im Rennen sind, ist geheim. Klar ist: Auch die Kruzianer haben kein Stimmrecht, werden aber „durch mehrere Gespräche mit den Bewerbern und der Kommission, ergänzend zu den Proben, in den Findungsprozess einbezogen“, sagt Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch.

Auch die Elternvertreter können sich ein Bild der Bewerber machen. Ob die Präferenzen von Chor und Eltern dann aber berücksichtigt werden, ist ebenso wie in Leipzig keine ausgemachte Sache.

Zudem muss sich der neue Kreuzkantor mit der jüngeren Geschichte des Chores befassen. Der versuchte, häufiger auch außerhalb der Kreuzkirche aufzutreten und sich einer breiteren Öffentlichkeit zu stellen.

Gegen diese angebliche Säkularisierung aber waren Traditionalisten Sturm gelaufen. Außerdem spart die Landeshauptstadt wegen eingebrochener Steuereinnahmen mit pauschal 12 Prozent kräftig an den Zuschüssen für ihre Kulturinstitutionen.

Weil die fixen Personalkosten den größten Anteil am Haushalt haben, sanken die Sachmittel um mehr als 40 Prozent. Davon sei der Chor „stark betroffen, aber arbeitsfähig“, heißt es knapp.

In Leipzig dagegen blieb der Kulturhaushalt stabil, weiß sich Skadi Jennicke einig mit dem Stadtrat: „Wenn die pandemische Krise etwas Gutes hat, dann die Einigkeit der breiten Bürgerschaft darüber, sich auch in schwierigen Zeiten zu ihrem kulturellen Reichtum zu bekennen.“ Davon ist Dresden weit entfernt. Ruhiger werden die Zeiten nicht.