Nachtzug nach Kielce: Cécile Wajsbrots Sprachkunstwerk „Mémorial“

„Mémorial“, der Roman der als Nachfahrin galizisch- und polnisch-jüdischer Flüchtlinge der Zwischenkriegszeit 1954 in Paris geborenen Schriftstellerin Cécile Wajsbrot, ist ein kunstvoll gewirktes Prosagedicht von bestechender Musikalität. Auch wenn es unter dem Titel „Aus der Nacht“, von Holger Fock und Sabine Müller meisterhaft ins Deutsche übertragen, schon einmal 2008 erschienen ist, kommt die Neuausgabe zum richtigen Zeitpunkt.

Seit der „Zeitenwende“ blicken sogar die Deutschen genauer auf die zentraleuropäischen Landkarten, um zu entdecken, daß Lwiw, alias Lemberg, näher bei Wien und Berlin als bei Moskau liegt und es auch von Odessa nach Marseille nicht annähernd so weit wie nach Wladiwostok ist.

Alleine und doch inmitten des Getümmels anderer Fahrgäste mit schwerem Gepäck – sich fragend, ob Flüchtlinge und Migranten darunter sind – wartet eine junge Frau über die Länge von 64 Seiten dieses schmalen Bands auf das als verspätet gemeldete Eintreffen des Zugs. Es ist die Bahnstation eines ungenannten Orts, der sich nach und nach als Paris zu erkennen gibt, mit einem glasüberdachten Kopfbahnhof, der – unausgesprochen – den Gare de Saint-Lazare samt jenen Passionen evoziert, die Marcel Proust einst seinen jungen Helden bei der Abreise nach dem halb-mythischen Badeort Balbec erdulden ließ. Nach der „alten Hauptstadt von Völkern, die es nicht mehr gab“, heißt es bei Wajsbrot, seien die Eltern der Ich-Erzählerin einst geflohen, ohne erneut Wurzeln zu schlagen, zumal sie Jahre darauf schon wieder fliehen und untertauchen mussten.

Doch davon und von den Gründen eines niemals endenden Umherirrens und einer quälenden Unruhe, die auch die Lebensweise der nachfolgenden, äußerlich in Sicherheit aufgewachsenen Generationen prägt, erfährt der Leser aus dem inneren Monolog der in der Passivität ihres Wartens auf die Abfahrt motorisch innehaltenden Erzählerin. Doch mischen sich darunter, wie auch unter das Stimmengewirr auf dem Bahnsteig und die Lautsprecheransagen, noch ganz andere Stimmen zu einem konstant wiederkehrenden Chor, dessen Orchestrierung Wajsbrot mit lyrischen Mitteln meistert.

Es sind die Stimmen der nächsten Angehörigen und der lediglich schattenhaft erinnerten Vorfahren, die in der Ferne des Kontinents zurückgeblieben und Verfolgung und Vernichtung preisgegeben waren. Die im Warten bereits geschärfte Wahrnehmung aller Sinne findet unter dem Genius loci des Bahnhofs als Ort des Trennens und Verbindens eine zusätzliche Intensivierung. Im Blick auf den Horizont der Schienenwege, auf ihr labyrinthisches Gewirr, auf die unendliche Fülle möglicher Verknüpfungen, erweitert sich der freigesetzte „stream of consciousness“ zum Fluss unwillkürlicher Erinnerungen aus eigenen wie zugetragenen Quellen.

Prosaischer drückt die Erzählerin die schmerzhafte Erfahrung der Kinder- und Enkelgenerationen derer aus, die zwar der Vernichtung entkommen sind, nicht aber dem anhaltenden Schrecken, der Angst und der Trauer. „Ich war allein auf dem Bahnhof mit dem Winter und der Kälte, und ich trug die Last einer Vergangenheit, die ich nicht selbst erlebt hatte, als unfreiwillige Zeugin von Abgründen, die Generationen trennte.“

Und so beginnt die Reise, die „Pilgerreise“ der Ich-Erzählerin in die entgegengesetzte Richtung, zurück zu den Orten des Aufbruchs der Eltern. Es sind dieselben Wege, über die der galizische Lands- und Gewährsmann Joseph Roth Mitte der 1920er Jahre seine den Pogromen entfliehenden „Juden auf Wanderschaft“ nach dem Westen begleitet und daneben auch sein Alter Ego, den Kriegsheimkehrer Franz Tunda auf „Die Flucht ohne Ende“ mit Paris als provisorischem Ziel geschickt hatte. „Viele Jahre“ habe es gedauert, heißt es bei Wajsbrot, bis ich einen Nachtzug nehmen konnte, ohne an den Weg der Deportierten in den Viehwaggons zu denken, egal, woher der Zug kam, egal, wohin er fuhr“ – Güterzüge, wie sie in der ganzen ersten Hälfte des Jahrhunderts über den Kontinent rollten, um Menschen dem Frachtgut gleich zu verschieben oder sie nach kurzem Halt bei den Todeslagern auszuwerfen und leer umzukehren.

Im Nachtzug von Paris nach Warschau werden in einem langen Dialog mit einer polnischen Mitreisenden, einer Französischlehrerin auf der Rückfahrt nach ihrer Heimatstadt Oswiecim, bekannter unter dem Namen Auschwitz, auch die übrigen Orte und Länder wieder bei ihren Namen genannt. In Warschau muss die Erzählerin den Zug wechseln, um ans Ziel der Reise zu gelangen: Nach Kielce – das ist jener Schreckensort, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg traurige Berühmtheit durch ein grauenhaftes Pogrom an Überlebenden des Shoah erlangt hatte.

Als Pendant zum Pariser Ausgangsbahnhof, der schon bei Proust die Kreuzerhöhung auf dem biblischen Golgatha aufruft, begibt sich die Erzählerin auf den halbverwüsteten jüdischen Friedhof von Kielce. Endpunkt der Reise.

Bleibt noch von einem kontinentalen Solitär zu berichten: der weißen Schneeeule. Die präzise Schilderung ihrer beinahe mythischen Erscheinung, ihres Flugs und ihrer Umschau füllt die Übergänge und Zwischenräume der einzelnen Kapitel dieses Buchs und rundet es zum Kunstwerk.