War die Nationalelf von 1972 die beste der Geschichte?
Manchmal brauchen große Mannschaften und große Spieler wortmächtige Herolde ihrer Kunst. Das galt erst recht zu einer Zeit, in der nicht jede halbwegs auffällige Aktion auf dem Platz endlosen Beifall in den Echoräumen der sozialen Medien erhoffen konnte.
Am 29. April 1972 gewann eine deutsche Nationalmannschaft zum ersten Mal überhaupt in England, und es war nicht etwa ein Sportreporter, sondern ein Literaturtheoretiker und Publizist, der den besten Spieler jenes Abends in berühmt gewordenen Sätzen verherrlichte.
Karl Heinz Bohrer, damals England-Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, schrieb: „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte ‚thrill’. ‚Thrill’, das ist ein Ereignis, das nicht erwartete Manöver, das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, ‚thrill’, das ist die Vollstreckung, der Anfang und das Ende.“
Vielen Zeitgenossen galt das Wembley-Team als deutsche Wundermannschaft, besser als jene, die zwei Jahre später Weltmeister wurde. Und vielleicht sogar besser als die Weltmeister von 1954, 1990 und 2014 oder die Europameister von 1980 und 1996. Der Sieg in England war das Hinspiel im Viertelfinale der Europameisterschaft, denn die Endrunde in Belgien bestand damals nur aus zwei Halbfinals, einem Spiel um den dritten Platz und dem Finale.
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Das Rückspiel gegen die Engländer endete torlos, das anschließende Halbfinale gewann Deutschland gegen Gastgeber Belgien mit 2:1, und im Finale schließlich triumphierte das Team von Helmut Schön mit 3:0 gegen die Sowjetunion. Den größten Glamour jedoch hatte der Sieg in Wembley, als Netzer Geometrie in Energie verwandelte und vor Glück wahnsinnig machende Explosionen im Strafraum auslöste.
Wobei es mit derlei blumigen Elogen so ähnlich ist wie mit historischen Vergleichen – sie sind schwierig. Denn war die deutsche Mannschaft von 1972 wirklich besser als all die anderen?
“Richtige Struktur erst seit dem Turnier 2002 erkennbar”
Diese Diskussion wird seither von Fußballfans mit großer Begeisterung geführt, kühle Moderne treffen dabei oft auf Nostalgiker mit heißem Herzen. Die Modernen erzählten die Geschichte eines Spiels, das immer athletischer, schneller und besser geworden ist, während die Nostalgiker eine Schönheit beschwören, die längst verlorengegangen ist.
Um die Debatte mit neuen Fakten zu beliefern, bat 11Freunde die Deutsche Sporthochschule in Köln 2010 darum, den Vergleich mit den Mitteln von heute zu wagen. Insgesamt 16 Halbfinalspiele und Endspiele der deutschen Nationalmannschaft bei Welt- und Europameisterschaften zwischen 1958 und 2010 untersuchte die „Arbeitsstelle für Scoutingstudien“ – und zusätzlich den Sieg 1972 in Wembley. Sechs Wochen dauerte die Erfassung der Daten und ihre Auswertung, bis handfeste Ergebnisse vorlagen.
„Uns hat das viel Spaß gemacht, und die Ergebnisse sind teilweise wirklich sensationell“, sagte Professor Jürgen Buschmann, der das Projekt damals leitete. Erstaunlich sind bis heute die Erkenntnisse über die taktische Entwicklung. Bislang wird diese Historie als ein Wechsel der Formationen erzählt, etwa vom WM-System, das bis Ende der fünfziger Jahre dominierte, über das revolutionäre 4-2-4 der Brasilianer oder das klassische 4-4-2 der Engländer.
Später gab es den Libero in der Abwehr und eine Fülle von Varianten. Doch bei den Retro-Analysen dessen, was in der Sprache der Analytiker „durchschnittliche taktische Positionen bei Aktionen mit Ball“ genannt wird, kam Buschmann zu einer überraschenden Erkenntnis: „Ehrlich gesagt ist eine richtige Struktur erst seit dem Turnier 2002 erkennbar.“
Wechselspiel zwischen Netzer und Beckenbauer
Die Mannschaften zuvor rannten also wesentlich ungeordneter über den Platz als heute, wo die Aufgaben immer detaillierter vorgegeben sind. Natürlich heißt das nicht, dass es 1972 noch keine taktischen Muster gab, wie das damals viel bestaunte, weil neue Wechselspiel zwischen Günter Netzer und Franz Beckenbauer.
Mittelfeldmann Netzer und Abwehrchef Beckenbauer wechselten sich beim gegenseitigen Vorstoßen und Zurückfallenlassen ab, wie anhand der Statistik belegt werden konnte. Zwanzig Pässe spielte Netzer zu Beckenbauer oder umgekehrt. So oft, dass der Kölner Sportstudent Kai Krüger, der das Spiel am Computer bearbeitete, sich erstaunt fragte: „Sind die eigentlich auch privat so gut befreundet gewesen?“
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Eher nicht, aber die Zuspiele waren kein Ausdruck von Freundschaft, sondern der Fußballmoderne jener Tage. Der Libero und der Spielmacher teilten sich die Aufgabe, die Partie zu strukturieren. Sie bildeten eine Achse, um die herum die deutsche Mannschaft ein Spieltempo entwickelte, das problemlos mit dem von heute mithalten konnte.
Anhand der alten Fernsehbilder konnten die Kölner Analytiker zwar nicht ermitteln, wie viele Meter die Spieler gelaufen sind und wie schnell sie dabei waren, denn Trackingdaten durch Sensorenkameras unter den Tribünendächern gab es natürlich nicht. Trotzdem fanden sie einen Weg, die Spielgeschwindigkeit zu ermitteln und vergleichbar zu machen. Dazu wurde die Nettospielzeit gemessen und ins Verhältnis zum Weg gesetzt, den der Ball dabei zurücklegte.
Der Ball legte 2,9 Meter pro Sekunde zurück
Wenn eine Mannschaft insgesamt dreißig Minuten am Ball ist und ihn in dieser Zeit eine Gesamtstrecke von 3600 Metern hin- und herpasst, ergibt das eine Spielgeschwindigkeit von zwei Metern pro Sekunde. Als die Deutschen den Ball 1972 spielten, legte er 2,9 Meter pro Sekunde zurück.
Das wäre auch im Jahr 2020 noch ein bemerkenswert hoher Wert. Viel zu schnell war das damals für die Engländer, die auf nur 1,64 Meter pro Sekunden kamen. Das klingt nach keinem großen Unterschied, ist aber eine ganze Menge.
Die Deutschen ließen den Ball in Wembley also in einem Tempo zirkulieren, das heutigen Standards genügen würde. Netzer hatte dabei 99 Aktionen am Ball, so viele wie niemand sonst auf dem Platz, und mit 64 erfolgreichen Pässen verteilte kein anderer Spieler mehr Bälle. Er hatte die meisten Offensivaktionen (88), und zweimal zeigte er sogar ein Tackling.
Und noch etwas war beim historischen Sieg nicht zu übersehen, das man eigentlich nicht mit Netzer verbindet: Zehnmal ging der so gravitätisch das Mittelfeld lenkende Regisseur ins Dribbling.
Wie schnell Netzer lief, wie viele Kilometer er abspulte, das konnte wie gesagt nicht rekonstruiert werden. Von Gerd Müller, dem größten deutschen Torjäger aller Zeiten, der mit seinem Treffer zum 3:1-Endstand in Wembley Uwe Seeler als deutschen Rekordtorschützen überholte, weiß man es aus anderen Spielen. Er lief oft nicht viel mehr als drei Kilometer. So einen Wert übertreffen heute sogar die meisten Torhüter – oft schon in einer Halbzeit.
Herbert Wimmer, im Verein sowie in Wembley Netzers treuer Vasall, damals analog zu den Teams beim Radrennen „Wasserträger“ genannt, kam hingegen damals schon auf zehn bis elf Kilometer.
Keine Frage, athletisch bräuchten die meisten Spieler von einst eine Menge Zusatztraining, um heute noch mithalten zu können. Sie würden auch viel früher und viel öfter von ihren Gegenspielern bedrängt, weshalb sich das Spiel im Laufe der Zeit vom Zentrum auf die Seiten verlagert hat.
Heute werden nur noch 57 Prozent der Angriffe durch die Spielfeldmitte aufgebaut, früher waren es 65 Prozent. Auch das klingt nach keiner sensationellen Verschiebung, war für die Kölner Forscher jedoch ein „hochsignifikanter Unterschied“. Die Mannschaften versuchen heute, konsequent die ganze Breite des Platzes auszunutzen, und forcieren deshalb in der Regel das Flügelspiel.
Doch vielleicht sollte man noch einen anderen Wert ermitteln, selbst wenn man sich dabei in den Bereich der gefühlten Wahrheiten begibt. Man könnte ihn „Wow!“-Faktor nennen, denn immer wieder gibt es Mannschaften, die das Publikum ihrer Zeit schlichtweg umhauen. Früher war dieser Effekt oft regional begrenzt, weil man anders als heute Teams aus Spanien oder Argentinien – ja selbst englische Mannschaften – damals nur selten zu Gesicht bekam.
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Dass es früher vor allem Nationalteams waren, die das Publikum mit offenem Mund staunen ließen, liegt daran, dass zu Netzers Zeiten (und noch lange danach) nur bei großen Turnieren der ganze Kontinent oder die ganze Welt zuschaute.
Immer wieder gibt es den „thrill“ noch, den Karl Heinz Bohrer damals beschrieb. Er wird nur nicht mehr durch Pässe aus der Tiefe des Raumes ausgelöst, weil heute jeder Außenverteidiger im Spitzenfußball zu einem präzisen Seitenwechsel über fünfzig Meter in der Lage sein sollte. Die deutsche Nationalmannschaft von 1972 haute ihr Publikum auf ähnliche Weise um, wie es heute der FC Liverpool tut oder vor ein paar Jahren Pep Guardiolas FC Barcelona und ganz früher Pelés Brasilianer.
Weil diese Mannschaften etwas zeigen, das man so vorher noch nicht gesehen hat. Bei Netzer & Co. war es eine Leichtigkeit und Eleganz, wie man das zu jener Zeit vom deutschen Fußball nicht kannte, als auf dem Platz eher gearbeitet denn gezaubert wurde.
Er hatte den “Wow!”-Effekt
Doch noch etwas hatte die deutsche Mannschaft von 1972 zu bieten, allen voran Günter Netzer. Der Literaturkritiker und Fußballfan Helmut Böttiger hat es in einer Biografie des Spielers beschrieben. Netzers Pässe, klug und raumgreifend „atmeten den Geist der Utopie“, und seine Frisur stand für Sehnsucht nach neuen gesellschaftlichen Strukturen: „Diese langen Haare wollten mehr.“
Schon das erste große Buch über Netzer trug den Titel „Rebell am Ball“. Es inszenierte ihn als lässigen Popstar mit Jaguar, schöner Künstlerfreundin und hipper Diskothek im piefigen Mönchengladbach. Stellvertretend trug er den Generationskonflikt mit seinem Vereinstrainer Hennes Weisweiler aus, der feststellte: „Abseits ist, wenn das lange Arschloch zu spät abspielt.“
Viel wurde Anfang der Siebziger in Netzer hineinprojiziert. Heute wissen wir, dass nicht alles davon angemessen war, schließlich entpuppte er sich eher als cleverer Geschäftsmann denn als gesellschaftlicher Erneuerer oder Bohemien. Aber in sein Spiel konnte man sich hineinträumen, es hatte den „Wow!“-Effekt.