Fußballroman „Trainingslager“: Moderner Fußball trifft alpinen Wahnsinn
Tag 1 nachmittags. Scheiße. Der Geruch war unverkennbar. Dung, um genau zu sein. Warmer Mist in der Sonne, die demnach hoch am Himmel stand. Dumpfes Glockengeläut, vereinzelte Muh-Rufe vor dem Fenster. Also Kühe. Vermutlich. Sicher sein konnte er sich da nicht.
Landleben lag Holle Schneise nicht. Er war im wunderschönen Ruhrgebiet aufgewachsen, mit Schloten statt Scheunen, und lebte im lauten Berlin, voller Baustellen statt Bauernhöfen. Er kannte nur ein einziges Tier: einen Kater. Seinen Kater.
Der Schmerz rumorte im Kopf. Da half nur: Augen zu und durchschlafen. Aber wie sollte das gehen, bei dem Muhen? Wenn es wenigstens das Rattern einer U-Bahn wäre oder das Grölen eines Punks. Aber hier war nicht Berlin, hier war…
Ja, wo zur Hölle war Holle? An dieser Stelle eine Randnotiz: Niemand nannte Holger Schneise „Holger“. Nicht mal er selbst. Und in Gedanken sprach Holle nur von sich in dritter Person, also so: Ein Holle Schneise dachte an einen Holle Schneise. Eine Spätfolge des zu häufigen Anhörens von Fußballerphrasen.
In den österreichischen Alpen gestrandet
Mühsam sperrte also ein Holle Schneise seine Augen auf. Über der Welt lag Nebel. In Unschärfe zeichneten sich Objekte ab: geblümte Bettdecke, ein Holzschrank. Schräge Zimmerdecke. Überall Holz, kitschig ohne Ende. Ganz klar nicht Kreuzberg.
Schneise schlief oft in der U-Bahn ein und wachte am Arsch der Heide auf. Doch dann wurde er von Kontrolleuren geweckt, nicht von Kühen. Und sich einfach so in ein fremdes Bett zu legen, wäre selbst für ihn ein neuer Tiefpunkt gewesen.
Er könnte aufstehen und nachsehen. Das wäre fast zu einfach. Und dennoch zu schwer. Sein Kater war nicht fertig mit ihm. Holle atmete gegen den Schmerz an. Und gegen die Übelkeit. Ein Aufstoßen folgte und verriet im Abgang: Obstler.
Aha! Er befand sich also… in Österreich!
Holle holte tief Luft. Landluft. Nein, schlimmer: Bergluft. Kein Hauch von Abgas oder anderen Anzeichen von Kultur. Er befand sich an einem Ort, der jeden Ansatz abendländischer Aufklärung seit jeher an sich abperlen ließ: in den Alpen.
Schneise folgerte: Wenn er sich im Hochsommer in diesem ihm verhassten Hochgebirge aufhielt, konnte das nur zwei Gründe haben. Entweder Stau nach Italien. Oder aber Trainingslager. Ihm fiel alles ein. Er war hier wegen ihr. Der dicken Bertha.
Die Erkenntnis wäre leichter zu verkraften gewesen, wenn es sich bei Bertha, wie der Name vermuten ließe, um eine Kuh handeln würde, aber das war nur im weitesten Sinne richtig. Bei Bertha HSC handelte es sich um einen Fußballverein. Den größten Berlins gar, gegründet vor 120 Jahren, allerdings in Brandenburg, und benannt nach der Lieblingskuh des Gründers. Um dem Verein nach Eingemeindung in die Stadt mehr Relevanz zu verleihen, wurde noch HSC hinzugefügt: für HauptStadtClub.
Trotz verordneter Weltstädterei blieb der Klub tranig wie ein grasendes Rindvieh, daher der Spitzname „dicke Bertha“. Dass später ein berühmtes Geschütz so hieß, verhalf dem Verein kurzfristig zu mehr Popularität und einer Kanone im Klublogo.
Imagemäßig blieb Bertha aber so grau, wie es die Kombination der Vereinsfarben Schwarz und Weiß schon früh vermuten ließ. Bertha hätte dennoch schrulliger Kultverein sein können, aber der Anspruch in der Führungsetage lautete leider stets, als HauptStadtClub ganz nach oben zu gehören. Was dann nie so klappte.
Zu Heimspielen blieb die Tropen-Arena meist halb leer. Dabei hatte man, nachdem kein Grundstück in Berlin mehr frei war, viel Hoffnung in diesen Neubau in Brandenburg gesetzt. Doch der benachbarte Freizeitpark zog deutlich mehr Besucher an. Die Rückkehr ins Umland kratzte dazu am HauptStadtClub-Image.
Eine Woche lang nichts – außer Bertha HSC
Der Verein hatte dennoch so viele Fans, dass sich jede Zeitung in Berlin genötigt sah, täglich über Bertha zu berichten. So auch der Bote, ein Boulevardblatt alter Schule, für das Holle Schneise die Ehre hatte, seit fast zwanzig Jahren über Fußball zu schreiben. Und über Bertha.
Selbst die Saisonvorbereitung interessierte Fans so sehr, dass Zeitungen Reporter mit ins Trainingslager schickten. Viele Vereine fuhren im Sommer traditionell in die Berge. Die Abgeschiedenheit der Alpen bot alle Annehmlichkeiten. Hier konnten sich die sonst so abgelenkten Kicker völlig konzentrieren. Eine Woche lang nichts – außer Bertha HSC.
Holle wurde übel. Verzweifelt griff er auf den Nachttisch, doch die Flasche Obstler war leer. Er erinnerte sich dunkel: Die hatte er gegen Mittag geleert, zur Feier seiner Ankunft. Und eines neuen Rekordes. In fünf Stunden war sein Granada die 800 Kilometer von Berlin bis nach Österreich gerast.
Schneise hatte es eben eilig hinter sich bringen wollen. Als könne er eine ganze Woche hastig herunterschlucken wie den Wodka in seinem Flachmann, der gerade ebenfalls leer war. Natürlich war er nicht so wahnsinnig, dass er ab Abfahrt Schnaps trank, bei durchgehend Tempo 220. Nein, es waren nur acht Bier gewesen.
Aber Holle musste jetzt aufstehen. Bertha kam sicher gleich an. Die Mannschaft bezog ihr Quartier. Das war natürlich nicht hier, auf einem biederen Bauernhof, der Zimmer an Zeitungsschreiber mit knapper Kasse vermietete. Die Starkicker residierten standesgemäß auf einem Schloss.
Das Hotel Palais thronte auf einer Anhöhe über Irrding. Berthas Flug war gegen ein Uhr gelandet, die Busfahrt von Graz hierher dauerte zwei Stunden. Gegen drei müssten sie in Irrding eintreffen. Holle griff nach rechts zum Urzeit-Knochen, den er Handy schimpfte; es zeigte immerhin die Zeit.
Also, die Mannschaft kam um drei an… Jetzt war es 15:22 Uhr. Holles Körper klappte hoch wie ein Flugzeugsitz. Er musste los.
Trainingslager. Roman. Hg. Carpathia Verlag. Klappenbroschur. 20 Euro.