Sohn huldigt Vater: Tribute an Ornette Coleman beim Enjoy Jazz Festival
Musik ist niemals alterslos, sie ist im besten Falle zeitlos. Die über 60 Jahre, die zwischen Ornette Colemans epochalem Album „The Shape of Jazz to Come“ und seiner Vergegenwärtigung beim 25. Enjoy Jazz Festival in Ludwigshafen liegen, sind gemessen an den Entwicklungen, die der Jazz durchlaufen hat, eine Ewigkeit.
Eine historische Aufführungspraxis, die wie in der Klassik den Originalklang feiert, hat im Jazz schon deshalb wenig verloren, weil sich seine Improvisationslust nicht mit dem Werksbegriff verträgt. Wenn es dennoch einen nostalgischen Zug gibt, hat er auch damit zu tun, dass ein von den 60er und 70er Jahren geprägtes Publikum weiter nach dem vertrauten Stoff giert: Wer Ornette Coleman noch zu Lebzeiten gehört hat, hofft vielleicht auch acht Jahre nach seinem Tod auf ein Reenactment.
Das „Tribute to Ornette“, das sein Sohn, der 1956 geborene Schlagzeuger Denardo Coleman, mit einer siebenköpfigen Band und der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Ernst Theis ausrichtete, war von daher der glückliche Versuch, die sechs in Quartettbesetzung eingespielten Stücke von „The Shape of Jazz to Come“ (sowie dem älteren „Ramblin‘“ und dem späteren, aus der elektrischen Phase mit Prime Time stammenden „Times Square“) nicht nur von einer erstklassigen Besetzung interpretieren zu lassen und mit symphonischen Arrangements zu versehen, sondern ihnen in dieser orchestralen Umgebung von Neuem jene zukunftsweisende Energie einzuflößen, den der Titel einst versprach.
Dass die junge, hochexpressive Altsaxofonistin Lee Odom allein durch ihr Instrument die Stelle des Meisters einnimmt, verrücken die übrigen Bandmitglieder gleich wieder: Weder steht ihr, wie seinerzeit Ornette, der Part eines Zwillings zur Seite, den der Trompeter Don Cherry bildete. Noch bewegt sie sich an der Seite des südafrikanischen Pianisten Nduduzo Makathini und festgefügter Arrangements in einem harmonisch ähnlich offenen Feld: Ornette hatte die Definitionsmacht des Klaviers stets gescheut.
Unbändiger Geist
Der Ort, die BASF-Feierabendhalle, ist dabei auratisch aufgeladen. Hier hatte Ornette 2005 sein letztes Album „Sound Grammar“ aufgenommen, für das er zwei Jahre später einen Pulitzer-Preis erhielt. Auch die symphonische Ausgestaltung hat Tradition: 1972 spielte er zusammen mit dem London Philharmonic Orchestra „Skies of America“ ein, eine Aufnahme, die nur daran krankte, dass er aus rechtlichen Gründen sein Ensemble nicht mitspielen lassen durfte und sich auf einige Soli beschränken musste. Insofern könnte man dieses „Tribute“ als postume Genugtuung verstehen.
Eine halbe Stunde vor Beginn öffnen sich die Türen, und Ornettes unbändiger Geist weht bereits ganz unbeabsichtigt durch den Saal. Auf und hinter der Bühne spielen sich die Klarinetten, Geigen, Kontrabässe und Flöten der Staatsphilharmonie warm. Wie in einem Schmetterlingsschwarm taumeln und flattern die Themen von „Lonely Woman“ oder „Chronology“ durcheinander: Ersteres Ornettes sehnsüchtigste Rubato-Melodie, Letzteres ein typischer Postbop-Springinsfeld.
Erst im Konzert kehren sie in ein Gewebe zurück, an dessen solistischer Aufsprengung sich unter anderem der Tenorsaxofonist Isaiah Collier und die Gitarristin Mary Halvorson beteiligen: Ihre zunächst sauber intonierten und akkurat synkopierten Phrasen rauschen immer wieder unvermutet durch die Oktaven ab oder verheddern sich in Delay-Exzessen.
Rhythmisches Rückgrat
Das rhythmische Rückgrat bildet Jamaladeen Tacuma. An seiner bassistischen Unbeirrkeit im Funkmodus wie im freien Puls hängt auch Denardo, der sich, immer an der Grenze zur Unkonturiertheit, mit seinem fließenden Schlagzeugspiel dem ebenso raffiniert wie naiv Gestaltwandlerischen dieser Musik einfügt. In den Liner Notes zu „The Empty Foxhole“, einem Trioalbum des Vaters mit dem Bassisten Charlie Haden, auf dem Denardo als Zehnjähriger debütierte, berichtet Ornette, wie er am Telefon den Geburtstagswunsch des Sechsjährigen nach einer Spielzeugknarre entgegennahm, diesen aber schnell überzeugte, dass ein Drumset besser sei. „Dad“, soll Denardo damals gesagt haben, „vergiss die Knarre und schick mir das Schlagzeug per Express.“
Inzwischen ist er nicht mehr der Schrecken aller Jazzkritiker, sondern der weithin geschätzte Sachwalter seines Vaters. Beim Brooklyner „Bang on a Can“-Festival 2022 erlebte das von sechs Arrangeuren, darunter der nun auch live beteiligten Flötistin Nicole Mitchell, beförderte Projekt seine Premiere. In stark veränderter, für Enjoy Jazz eigens kuratierter Besetzung, trägt es den durchdringenden, oft schmerzlich schönen Gesang von Ornettes Musik nun in ein neues Zeitalter.
Nichts darin geht ohne Persönlichkeiten wie die Spoken-Word-Künstlerin Moor Mother, die sich durch Dutzende von Ornettes Albumtiteln duchdeklamiert. Nichts geht aber auch ohne einen Dirigenten wie Ernst Theis, der den gewaltigen, sich in den Bestandteilen so fremden Apparat, zusammenhält. Ein Triumph auch für ihn.