Italiens Titel ist ein Signal des Aufbruchs
Der schottische Trainer Bill Shankly sagte einst: „Einige Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tor. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!“ Natürlich war das nicht ganz ernst gemeint und spätestens in den bangen Minuten, als Christian Eriksen zu Beginn dieser EM auf dem Rasen um sein Leben kämpfte, wurde deutlich, dass es viel wichtigere Dinge gibt als Sieg und Niederlage.
Allerdings hat die Europameisterschaft auch gezeigt, dass es in diesem Sport um viel mehr gehen kann als um 22 Menschen, die in kurzen Hosen einem Ball hinterherlaufen. Fußball kann vereinen, er kann trennen, er kann Zeichen setzen, er ist Quell der Freude, der Hoffnung und der Trauer.
Etwa eine Stunde nach dem letzten Akt dieser EM meldete sich Giorgio Chiellini in den Sozialen Medien zu Wort. Italiens Kapitän ist auf dem Feld ein rustikaler Kämpfer, ein Abwehrspieler alter Schule.
So hart er auf dem Rasen ist, so feinfühlig ist er abseits davon. Kurz nach dem größten Triumph seiner Karriere dachte der 36-Jährige nicht nur ans Feiern, sondern schickte einen emotionalen Gruß an die Menschen in der Heimat.
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„Ich danke euch, euch allen. Denn bei diesem unglaublichen Abenteuer wart ihr bei uns. Vor unseren Augen. In unseren Herzen. Die Schmerzen und Mühen der Menschen, die unter der Pandemie gelitten haben.
Die Gesichter von Frauen, Männern, Alten, Jungen, Kindern und von denen, die uns das Leben gerettet haben: den Ärzten. Ihr habt uns angetrieben. Dieser Sieg, diese Tränen sind für euch.“
In Chiellinis Worten steckt viel Pathos und der Fußball neigt schon immer zur Überhöhung. Beispiele gibt es auch in Deutschland zur Genüge: Das Wunder von Bern, der WM-Titel 1990 kurz nach dem Fall der Mauer.
In Italien wird der Triumph bei dieser ungewöhnlichen und in vielen Facetten fragwürdigen Europameisterschaft als Wiedergeburt gefeiert, als Neustart nach anderthalb Jahren des Leidens und des Verzichts. Wer die Freude der Menschen in den Städten von Bozen bis Palermo gesehen hat, erkennt, dass Italien am Sonntag nicht nur ein Fußballspiel gewonnen hat.
Nicht erst seit der Pandemie ist das Land in weiten Teilen gespalten, zwischen Arm und Reich, Nord und Süd, Links und Rechts. Zumindest für ein paar Stunden, ein paar Tage und Wochen hat es die Nationalmannschaft geschafft, ein Gefühl der Einheit und des Aufbruchs zu erzeugen.
Das Coronavirus hat mehr als 127.000 Italienern das Leben gekostet, viele wirtschaftliche Existenzen gefährdet, die Lebenslust dieser lebenslustigen Nation erstickt. Natürlich wird das alles nicht ungeschehen gemacht durch ein Fußballspiel. Doch die Nationalmannschaft hat die Mentalität vorgelebt, mit der auch das Land Schritt für Schritt zur Normalität zurück finden kann.
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Im November 2017 stand die Squadra Azzurra am Tiefpunkt, zum ersten Mal nach fast 60 Jahren fand eine WM ohne die stolze Fußballnation statt. Die Probleme gingen tief und alles deutete darauf hin, dass der WM-Titel von 2006 für lange Zeit der letzte große Erfolg bleiben würde.
Doch 1336 Tage nach dem Debakel gegen Schweden stehen die Azzurri wieder ganz oben. Überraschend, aber absolut verdient. Mit einem fantastischen Trainer Roberto Mancini, der eine Ansammlung von guten, aber nicht herausragenden Spielern mit einer taktischen und mentalen Meisterleistung zurück an die Spitze geführt hat.
Mit dem jungen Torwart Gianluigi Donnarumma, der das schwere Erbe von Gigi Buffon in großem Stil angetreten hat und zum besten Spieler des Turniers ernannt wurde. Mit dem eingebürgerten Regisseur Jorginho, dem nervenstarken Abwehrchef Leonardo Bonucci. Und mit dem famosen Kapitän Chiellini, der im Moment des größten Erfolgs menschliche Größe bewiesen hat.