Weisheiten der Welt
Mit großem Schwung setzt Hassan Massoudy die Buchstaben aufs Papier – aber nicht mit dem Kalam, der Rohrfeder, sondern mit einem zehn Zentimeter breiten Stück Karton, das er in Farbe getränkt mit ruhiger Hand über die Fläche zieht. Der Strich verjüngt sich, die Farbe wird immer transparenter. Massoudy „schreibt“ wie kein anderer Kalligraph – darum hat das Museum für Islamische Kunst dem Schriftkünstler aus dem Irak nun eine Doppelausstellung im eigenen Haus und der Freiraum Box in Friedrichshain gewidmet.
Das Video im Museum gibt einen Eindruck von seiner Arbeitsweise, Pappstücke und die Kalam liegen in einer Vitrine. Seine großen Schriftzeichen plant Massoudy im Gegensatz zur klassischen Kalligraphie. Es gibt Vorzeichnungen und Studien; meist sind es Sinnsprüche, darunter Friedrich Schillers „Raum für alles hat die Erde“, den er mehrfach gemalt hat.
Massoudy, 1944 in Najaf geboren, zog 1961 nach Bagdad, um klassische Kalligraphie zu studieren. Die politische Entwicklung im Irak zwang ihn 1969 zur Flucht nach Paris, wo er an der Académie des Beaux Arts Malerei studierte. Die moderne Kunst beeinflusste ihn, besonders Henri Matisse, aber auch die japanische Kalligraphie. Der Künstler „malt“ mit Schrift, die Buchstaben konturieren den Körper einer Frau.
„Schreite voran und sei frei“, heißt ein anderes Werk, in dem das Wort Richtung Horizont marschiert. Der erste Irakkrieg hinterließ Spuren in Massoudys Werk. So schwebt das Wort „Salam“ (Frieden) über einem Meer aus kleinen Schriftzeichen. Der Kopf der leidenden Löwin von Ninive wird aus Buchstaben geformt, gerade noch kann man es lesen.
Im zweiten Ausstellungsraum sind kleinformatige Sinnsprüche und Weisheiten zu sehen. Massoudy zieht ein Wort aus dem Spruch, den er in verschiedenen Kalligraphiestilen unter das Bild schreibt – allein das zeigt seine Meisterschaft.
Massoudy besitzt eine große schöpferische Bandbreite
Auch Besucher:innen, die kein Arabisch können, verblüfft die Variabilität der Schrift, die sich bis an den Rand der Abstraktion bewegt. Marie von Ebner-Eschenbachs Zitat „Vertrauen ist Mut“ hat er mit großem Schwung geschrieben, wie rote Fahnen wehen die Buchstabenteile. Ein anderes Bild zeigt den gleichen Spruch fast als Quadrat aus braunen Brettchen, Buchstaben sind kaum noch zu erkennen.
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Was klein im Museum zu sehen ist, ist groß im Freiraum in der Box in der Boxhagener Straße 94 zu bewundern. Hier geht es vor allem um den Inhalt. „Raum für alle hat die Erde“ heißt der zweite Ausstellungsteil. Gezeigt wird ein Ausschnitt der 50 Werke, die das Museum für Islamische Kunst mit Mitteln der Organisation Alwaleed Philantropies erworben hat.
[Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum, bis 17.10.; Di bis So 10 – 18 Uhr. Zeitfenster unter www.smb.museum/tickets. Freiraum in der Box, Boxhagener Str. 94, bis 28. 8, Mi bis Fr 15 – 18 Uhr, Sa 12-18 Uhr, anmeldung@freiraum-berlin.org.]
36 weitere schenkte Massoudy hinzu, damit das Haus seine moderne Abteilung ausbauen kann. „Der Wind verändert die Dünen, doch die Wüste bleibt immer die Wüste”, lautet eine arabische Weisheit. Massoudy stellt sie in Form übereinandergelegter gewellter Buchstaben dar, wie Segel im Wind.
„Raum für alle hat die Erde“ demonstriert Massoudys große schöpferische Bandbreite. Mit seinen gemalten Weisheiten gibt er sich dabei stets betont international. Der Schriftkünstler setzt um, was ihm gefällt – ob die Sinnsprüche nun aus Asien, Europa oder der arabischen Welt kommen. Seine Palette reicht von Augustinus bis Saint-Exupéry, getreu dem Spruch von Al Siquilly: „Wenn ich aus Erde gemacht bin, dann ist diese in ihrer Gänze mein Land, und alle Menschen sind meine Brüder.“