Die Zeit der Wunder
Spirituelle Erweckung ist nicht unbedingt das, was man auf einer Galopprennbahn erwartet. Aber der „Traberhof“ in Rosenheim, eine malerisch im Alpenvorland gelegene ehemalige Pferdesportanlage, wurde 1949 zum Schauplatz einer der merkwürdigsten Massenversammlungen der gerade erst in Gründung befindlichen Bundesrepublik. Bis zu 30 000 Menschen belagerten tagelang das Hauptgebäude, ein Restaurant, auf dessen Dachterrasse normalerweise Gäste bei Kaffee und Kuchen saßen.
Nun warteten die Besucher auf den Auftritt eines Mannes, von dem sie Erlösung erhofften. Wenn Bruno Gröning dann auf den Balkon trat, senkte sich eine „Totenstille“ auf die Menge, wie ein Reporter der Illustrierten „Revue“ festhielt. Alle „von Kummer und Leid zerfurchten Gesichter“ seien von „diesem unscheinbaren kleinen Mann gebannt“ worden. Er besaß bemerkenswert blaue Augen sowie eine zurückgekämmte Denkermähne, trug abgetragene Hosen und ein bis zum Hals zugeknöpftes Hemd. Gröning fragte in die Menge, wer an Schmerzen leide, bat die Betroffenen, eine Hand auf die schmerzende Stelle zu legen und die Augen zu schließen. Zehn Sekunden später sollten sie ihre Augen wieder öffnen und erzählen, was sie fühlten. Alle sagten, dass sie ein „seltsames Kribbeln“ verspürten. Bald danach konnten Besucher, die mit gelähmten Beinen gekommen waren, wieder gehen. Ein Wunder.
Symptom einer Ära
Bruno Gröning spielt die tragende Hauptrolle in Monica Blacks brillanter Studie über „Deutsche Dämonen“. Der heute vergessene Wunderheiler sorgte in den Nachkriegsjahren für mehr Schlagzeilen als die meisten Filmstars. Der „Spiegel“ veröffentlichte eine Titelgeschichte, Zeitungen brachten Serien über seinen Werdegang, es erschienen Biographien und Filme über ihn. Doch die damals nicht bloß in den Medien, sondern auch vor Gerichten diskutierte Frage, ob er ein Scharlatan war, interessiert Black bloß am Rand. Die Historikerin, die an der University of Tennessee in Knoxville lehrt, hält den Esoteriker für einen Seismographen, besser noch: das Symptom einer Ära.
Der Krieg, der von Deutschland ausgegangen und auf sein Territorium zurückgekehrt war, hatte zum massenhaften Tod, zu zerbombten Städten und obdachlos gewordenen Seelen geführt. Black spricht von einer „Gesellschaft der Entwurzelten“, geplagt von Wunden und Gewissensbissen. Die Verbrechen waren noch allgegenwärtig, doch über Schuld und Verstrickung wurde beharrlich geschwiegen. Hannah Arendt wunderte sich, als sie 1949 aus ihrem amerikanischen Exil zu einem Besuch nach Deutschland zurückkehrte, dass die meisten Menschen weitermachten, als wäre nichts geschehen. Der vergangene Albtraum, konstatierte sie, werde nirgendwo sonst im verwüsteten Europa „weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen“.
Monica Black hat sich durch Gerichtsakten und Archive gearbeitet, sie schreibt über Geistheiler, apokalyptische Prophezeiungen und Nachbarn, die als Hexen denunziert werden. Ihre Kultur- und Mentalitätsgeschichte ist tiefenpsychologisch grundiert. Die erstaunlichen Szenen, die sie ausbreitet, geben einen Einblick in kollektive Seelenzustände. Sie selbst nennt ihr Buch ein „Portal in ein von Dämonen heimgesuchtes Land“.
Pilger aus halb Deutschland
Gröning, der 1906 bei Danzig geboren wurde, Mitglied der NSDAP und Kriegsgefangener gewesen war, hatte vor seinen Auftritten in Rosenheim schon in Herford Aufsehen erregt. Nachdem er in der ostwestfälischen Kleinstadt ein bettlägeriges Kind von seinen Leiden befreit hatte, war in der Presse vom „Wunder von Herford“ die Rede. Pilger reisten aus halb Deutschland an, Bittbriefe erreichten den Heiler auch aus Frankreich und den Niederlanden.
Gröning wurde, so Black, als „Werkzeug einer Kraft“ gesehen, die positive Energie entfaltete. „Meine Gaben kommen von Gott“, behauptete er. Seine Hilfsmittel waren ein „Heilstrahl“ und „Gröningkugeln“ aus dem Stanniolpapier von Zigarettenpackungen, die seine Patienten in der Hand halten sollten. Gröning verstand sich als Heilpraktiker, ein Beruf, der 1941 von den Nationalsozialisten verboten worden war.
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Seine Arbeit, dafür finden sich in den Quellen viele Bestätigungen, wirkte. Menschen, die Befreiung suchten, fühlten sich von ihm erlöst. Für Black lautet die zentrale Frage: Wovon heilte Gröning sie? Alexander Mitscherlich, Psychoanalytiker und großer Essayist, beschrieb ihn 1951 in einem Gerichtsgutachten als Projektion und Produkt kollektiver Wünsche, sein Auftreten scheine aber „krankhaft im Sinne einer neurotischen Störung“. Der vermeintliche Heildoktor lebte, so Mitscherlich, in einer magischen Welt und besaß keinen „grundlegenden Wesenskern“. Für seine Anhänger war er ein Erretter, ähnlich wie zuvor Hitler.
An Geld war der asketisch auftretende Alternativmediziner zunächst wenig interessiert, die „Moneymelkerei“ – ein zeitgenössischer Begriff – begann, als er einen Manager engagierte. Otto Meckelburg war ein ehemaliger SS-Sturmbannführer, der Kriegsverbrechen begangen hatte. Nach dem Krieg tauchte er unter, nannte sich Otto Land und wurde zum, wie es damals hieß, „Braun-Schweiger“. Die Rückkehr zum wirklichen Namen und seine Begegnung mit Gröning fallen in die Zeit, als sich der gerade gewählte Bundeskanzler Konrad Adenauer für eine Amnestie von in der NS-Zeit begangenen Straftaten einzusetzen begann.
Angeklagt wegen fahrlässiger Tötung
Mecklenburg schickte Gröning auf eine Tournee entlang der Nordseeküste und nahm mitunter an einem einzigen Abend Spenden in Höhe von 34 000 Mark ein. Der Plan, „Gröning-Heilstätten“ zu eröffnen, scheiterte, nachdem Gröning sich mit Mecklenburg überworfen hatte. Einen letzten großen Auftritt hatte der Heiler, als er 1957 in München wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht stand. Eine junge Frau, die von ihm behandelt worden war, war an Tuberkulose gestorben. Gröning wurde in zweiter Instanz freigesprochen und starb kurz danach.
[Monica Black: Deutsche Dämonen. Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit. Aus dem Englischen von Werner Roller. Klett-Cotta, Stuttgart 2021. 432 Seiten,26 €.]
In den Nachkriegsjahren wurden scharfe soziale Kämpfe ausgetragen, das hat zuletzt Harald Jähner in seinem Bestseller „Wolfszeit“ beschrieben. Der Fremdenhass saß tief und traf nun auch Flüchtlinge und Vertriebene aus den einst deutschen Ostgebieten. Monica Black fand viele Belege für eine um 1950 ausbrechende Hexenfurcht. Polizeiberichte erzählen von Anschuldigungen, bei denen es um Kinder geht, die krank werden, um Schweine, die sterben, oder um Kühe, die keine Milch mehr geben. Die Fälle wurden Hexen, Zauberern oder einer „bösen Gewalt“ zugeschrieben.
Bekannt wurde die Geschichte des in Dithmarschen lebenden Tischlers Waldemar Eberling, der aus dem Muster von Federbetten herauslas, ob die Benutzer von jemandem verflucht worden waren. Die Anstiftung zur Denunziation gehörte zu den Herrschaftsinstrumenten des Nationalsozialismus. Paranoia, bemerkt Black, war bis 1945 „ein anderes Wort für guten Menschenverstand“. Doch im „Wirtschaftswunder“ besannen sich die Deutschen mehr und mehr auf die Gegenwart, mehrten ihren Wohlstand und fanden das Glück im Konsum. Der Bann war gebrochen.